KIRKE
Zum Tod von Manfred Fuhrmann

Der emeritierte Ordinarius für Latinistik an der Universität Konstanz Manfred Fuhrmann ist am 12. Januar 2005 im Alter von 79 Jahren gestorben. Mit ihm verliert die deutschsprachige Geisteswissenschaft einen Gelehrten, der weit über ihre Grenzen hinaus ein Konzept von Bildung nicht nur vertrat, sondern vorlebte, das an der Identität und Kontinuität der europäischen Kultur orientiert war.

Fuhrmann, geboren am 23. Juni 1925 in Hiddesen bei Detmold, wuchs in einem deutsch-niederländischen Elternhaus auf. Bezeichnenderweise war Leiden sein erster Studienort. Auf ein ebenfalls in Aussicht genommenes Musikstudium verzichtete er zugunsten derjenigen Fächerkombination, die sein wissenschaftliches Profil wesentlich prägte: der Verbindung von Klassischer Philologie und Jurisprudenz. Erstere erwies sich dabei als bestimmend: Nach Promotion (1953) und Habilitation (1959) in Freiburg, eben für Klassische Philologie, wurde Fuhrmann 1962 an die Universität Kiel berufen. 1966 folgte er einem Ruf an die neugegründete Universität Konstanz. Er war Mitglied der Heidelberger und der Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Wenige Wochen vor seinem Tod verlieh ihm die Juristische Fakultät der Universität Freiburg die Ehrendoktorwürde.

Neben der frühen Begegnung mit der Jurisprudenz wurde eine zweite interdisziplinäre Verbindung für Fuhrmann prägend: Mit der Berufung nach Konstanz trat er ein in einen Kreis bedeutender Literaturwissenschaftler, von denen zwar jeder eine spezifische disziplinäre Basis hatte, die aber zugleich das Ziel einer fachübergreifenden Theoriebildung verband. Zu nennen sind hier vor allem der Anglist Wolfgang Iser, der Romanist Hans Robert Jauß, der Germanist Wolfgang Preisendanz und der Slawist Jurij Striedter. Allesamt in Konstanz tätig, wirkten sie einerseits dort als Initiatoren und Garanten einer hohen literaturtheoretischen Diskussionskultur und bildeten andererseits den Kern der Forschergruppe "Poetik und Hermeneutik", die sich in regelmäßig an verschiedenen Orten stattfindenden Kolloquien konstituierte und dabei jeweils weitere herausragende Gelehrte hinzuzog. Die "Vorlagen und Verhandlungen" (so die Untertitel der ersten beiden Bände) wurden, was damals noch eher ungewöhnlich war, in Tagungsbänden publiziert - Fuhrmann ist seit Band 2 (1966), der das Kolloquium von 1964 dokumentiert, als Autor vertreten, also bereits vor seinem Wechsel nach Konstanz. Heute erscheinen diese Bände als Monumente aus einer Zeit, in der noch Ereignischarakter hatte, was inzwischen inflationäre Auswüchse angenommen hat. Fuhrmanns in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung von 1968 erhobene Forderung, Latinistik und Gräzistik sollten sich den Anregungen von Theorie und Methodik der neueren Literaturwissenschaften öffnen, hat ihre Wurzel in seiner Zugehörigkeit zu diesem Kreis und den dort gewonnenen Eindrücken. Heute ist dies - und dafür hat Fuhrmann mit den Weg bereitet - Gemeingut.

Von seiner Beschäftigung mit dem römischen Recht her mußte sich ihm der Bereich praktischer Beredsamkeit und rhetorischer Theorie als Forschungsgebiet erschließen. Mit der Rhetorik aber konvergiert seit späthellenistischer Zeit die Poetik; beide können von da an nur noch im Zusammenhang betrachtet werden. An dieser Stelle läßt sich die Verbindung fassen, die zwischen Fuhrmanns Verwurzelung im römischen Recht auf der einen und seiner Beziehung zur modernen Literaturtheorie der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" auf der anderen Seite besteht. Bezeichnend ist der Titel seines Beitrages im gerade schon erwähnten Tagungsband 2: "Obscuritas (das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike)". Hatte Fuhrmann zunächst mit eher esoterischen Arbeiten das Gebiet der antiken Rhetorik betreten - sie ist berücksichtigt in seiner Habilitationsschrift "Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike" (1960), woraus noch eine Spezialstudie "Untersuchungen zur Textgeschichte der pseudoaristotelischen Alexander-Rhetorik" (1965) sowie die Edition dieser Schrift (1966) hervorging, so legte er später mit seiner "Einführung in die antike Dichtungstheorie" (1973) - eine Neubearbeitung erschien 1992 - und dem im Untertitel ebenfalls als Einführung bezeichneten Werk "Die antike Rhetorik" (1984) Überblicksdarstellungen vor, die große Verbreitung, gerade auch außerhalb der Fachgrenzen, fanden.

Fuhrmanns latinistisches OEuvre seit seiner Freiburger Dissertation bei Karl Büchner ("Untersuchungen zur Religiosität des Horaz") ist kaum überschaubar, reicht es doch von frühen Rechtstexten bis zur Literatur der Renaissance. Ein Eindruck von Fuhrmann als Textinterpret läßt sich vielleicht am besten an seinem frühen Aufsatz "Das Vierkaiserjahr bei Tacitus. Über den Aufbau der Historien I-III" (Philologus 105, 1960) gewinnen. Fuhrmanns bleibende Leistung ist jedoch konzeptioneller Art, indem er die Grenzen des Verständnisses von 'Römischer Literatur' entschieden ausgeweitet hat. Zum einen rückte seine juristische Ausbildung früh die Fachschriftsteller in seine Aufmerksamkeit und verhinderte so die Verengung auf 'schöne' Literatur, zum anderen erschloß er der deutschen Philologie die Spätantike als literarisch-kulturelle Epoche diesseits patristischer Fragestellungen. Von seinem bahnbrechenden Aufsatz "Die lateinische Literatur der Spätantike. Ein Beitrag zum Kontinuitätsproblem" (Antike und Abendland 13, 1967), der den Zeitraum vom dritten bis zum siebenten Jahrhundert n. Chr. neu definiert, bis zur abschließenden Darstellung "Rom in der Spätantike" (1994) hat Fuhrmann als Anwalt spätantiker Literatur und als Anreger von Studien zur Spätantike gewirkt, insonderheit auch als Lehrer Reinhart Herzogs.

Zweimal hat Fuhrmann die römische Literaturgeschichte insgesamt dargestellt. 1974 gab er den Band "Römische Literatur" im "Neuen Handbuch der Literaturwissenschaft" heraus und versah diesen mit einer ebenso konzisen wie komplexen Einleitung, die von der italischen Geographie und den kulturellen Beziehungen zu Griechenland über die Sozialgeschichte der Schriftsteller bis zum Buchwesen reichte. Bezeichnenderweise beschränkte sich Fuhrmann im Darstellungsteil des Bandes allein auf den Beitrag "Die römischen Fachschriftsteller".

Seine eigene "Geschichte der römischen Literatur" erschien erst 1999, wobei er sich - getreu seiner Epocheneinteilung - allein auf die Texte bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts n. Chr. beschränkt. Die Darstellung ist knapp und luzide; das Urteil über Strittiges tendiert zum Konservativen. Intertextuelles Virtuosentum sucht man vergebens, dafür ist der Blick auf politische und gesellschaftliche Zusammenhänge wach und scharf.

Fuhrmann hat seine Gabe zu synoptischer Epochendarstellung und Charaktersynthese zudem in zwei Biographien unter Beweis gestellt. Sowohl "Cicero und die römische Republik" (1991) als auch "Seneca und Kaiser Nero" (1997) sind Standardwerke geworden. Nicht von ungefähr gelten die Biographien den beiden wichtigsten lateinischen Prosa-Autoren.

Zur Vermittlungsaufgabe des Philologen gehörte es für Fuhrmann auch, antike Texte durch Übersetzung zugänglich zu machen. Hierüber reflektierte er einerseits in übersetzungstheoretischen Abhandlungen. Vor allem aber trat er selbst als Übersetzer hervor. Die 'Poetik' des Aristoteles ist im deutschsprachigen Raum in den letzten beiden Jahrzehnten zweifellos vor allem in seiner Reclam-Übersetzung (1982) rezipiert worden. Für seine Übersetzung sämtlicher Reden Ciceros (7 Bände, 1970-1982) verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1990 den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Es sei ihm gelungen (so heißt es im Urkundentext), "die forensische Beredsamkeit deutscher Sprache, soweit diese in ihr entwickelt worden ist, in die Übertragung des lateinischen Textes einzubringen und auf diese Weise dem heutigen Leser ein stilsicheres Bild antiker Rhetorik zu vermitteln". Durch die Herausgabe und Kommentierung von Chr. M. Wielands Übersetzung des Horaz in der zwölfbändigen Wieland-Ausgabe des 'Deutschen Klassiker Verlages' (Bd. 9, 1986) hat Fuhrmann zudem einen epochalen Übersetzungstext neu erschlossen.

Konsequent - und doch ungewöhnlich für einen Universitätsprofessor - war, daß der Latinist Fuhrmann auch dort Einfluß nahm, wo lateinische Sprache und Literatur heute ihren wichtigsten 'Sitz im Leben' haben: im Lateinunterricht am Gymnasium. Auch hier ging es ihm darum, den klassizistischen Kanon aufzubrechen und durch neue Texte zu erweitern. Zwei Sammlungen sind vor allem zu nennen: "Fälle aus dem römischen Recht" (1974, mit D. Liebs) und "'Ohrfeigen gegen Barzahlung' und viele andere Geschichten" (1976, mit J. Klowski; es handelt sich um Texte von Gellius, Caesarius v. Heisterbach, Poggio, Bebel, Erasmus u.a.). Daneben war Fuhrmann auch Mitautor eines lateinischen Unterrichtswerkes, der "Nota" (1976). Im traditionellen Bereich der Schulautoren lehnte er Caesars 'Bellum Gallicum' als Anfangslektüre mit größter Entschiedenheit ab; die Vermittlung von Ciceros Reden unterstützte er durch eine eigene didaktische Handreichung: "Redekunst am Beispiel Ciceros" (1997).

Die größte Resonanz erreichte Fuhrmann in seinen letzten Lebensjahren. In Fortführung der Aufsatzsammlung "Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition" (1982) erschienen nun die umfassenden Darstellungen "Der europäische Bildungskanon" (1999; in erweiterter Neuauflage 2004) und "Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II." (2001), die mit wohlwollendem Respekt rezipiert wurden. Der kleine Reclam-Band "Bildung. Europas kulturelle Identität" (2002) wurde indes zum meistdiskutierten Text, den ein Klassischer Philologe in den letzten Jahrzehnten verfaßt hat. Mit nüchterner Knappheit wird darin das Fortwirken des paganen wie des christlichen Erbes der Antike bis zur Gegenwart nachgezeichnet. Die aktuelle Diagnose, daß die "bürgerliche, die kompetitive Gesellschaftsform" nach dem Zweiten Weltkrieg einer "nivellierten Massen- und Erlebnisgesellschaft" Platz gemacht habe, ließe sich leicht als resignativer Rückblick eines Mannes mißverstehen, der alles hinschwinden sieht, wofür er eintrat und was er selbst verkörperte. Fuhrmanns Diagnose dringt aber auf Prinzipielles: Eine Kultur, die sich ausschließlich den Standards der Naturwissenschaften und der Soziologie ausliefert, entäußert sich der Fähigkeit zu "historistischer Hermeneutik", wie sie das Verständnis jeden Individuums verlangt. Mit dem Verlust europäischer Bildung verschwindet der Mensch als Person.

Einen, wenn nicht gar den wichtigsten biographischen Einfluß auf seine Entwicklung hat Fuhrmann erst in seinem letzten Buch preisgegeben: "Aus der Bahn geworfen. Die Stationen des jüdischen Theatermannes Hans Kaufmann" (2003). Fuhrmann rekonstruiert darin das Leben eines 1876 in Berlin geborenen Regisseurs, der nach einer leitenden Funktion am neugegründeten Deutschen Opernhaus in Berlin-Charlottenburg die Intendanz am Landestheater in Braunschweig und später am Stadttheater in Bern übernahm. 1931 nach Deutschland zurückgekehrt, geriet der getaufte Jude zunächst in die Ächtung und dann in die stets schärfer werdende Verfolgung durch das NS-Regime. 1941/42 wurde Kaufmann von Manfred Fuhrmanns seit 1939 verwitweter Mutter, die mit Kaufmanns Frau befreundet war, unter großem Risiko für sich und ihre fünf Kinder in ihrem Haus in Hiddesen aufgenommen, ehe er denunziert und nach Theresienstadt deportiert wurde. Kaufmann überlebte drei Jahre KZ-Torturen, und konnte nach 1945 sogar für kurze Zeit die Leitung des Detmolder Theaters übernehmen, doch wurde ihm bis zu seinem Tod 1957 nie angemessene Entschädigung oder auch nur Anerkennung zuteil. Fuhrmanns biographische Spurensuche stiftet diesem Leben nun ein bleibendes Gedächtnis. Das Buch läßt nur zwischen den Zeilen ahnen, wie sehr die Erfahrung von klagloser Haltung, familiärer Zivilcourage und geteilter Clandestinität den damals Sechzehnjährigen geprägt haben muß. Doch an einer Stelle wird deutlich, was Bildung für Fuhrmann im letzten bedeutet haben muß: Kaufmanns briefliche Äußerung, er habe in Theresienstadt durch festen Willen und "Glauben" überlebt, interpretiert Fuhrmann, da Kaufmann allem Anschein nach religiös nicht gebunden war, als "Glauben an die Humanität und die Kultur".

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