6.3. Bertolt Brecht: Besuch bei den verbannten Dichtern


Als er im Traum die Hütte betrat der verbannten
Dichter, die neben der Hütte gelegen ist
Wo die verbannten Lehrer wohnen (er hörte von dort
Streit und Gelächter), kam ihm zum Eingang
Ovid entgegen und sagte ihm halblaut:
"Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht gestorben. Wer weiß da
Ob du nicht doch zurückkehrst, ohne daß andres sich ändert Als du selber." Doch, Trost in den Augen
Näherte Po Chü-yi sich und sagte lächelnd: "Die Strenge
Hat sich jeder verdient, der nur einmal das Unrecht benannte."
Und sein Freund Tu-fu sagte still: "Du verstehst, die Verbannung
Ist nicht der Ort, wo der Hochmut verlernt wird." Aber irdischer
Stellte sich der zerlumpte Villon zu ihnen und fragte: "Wie viele
Türen hat das Haus, wo du wohnst?" Und es nahm ihn der Dante bei Seite
Und ihn am Ärmel fassend, murmelte er: "Deine Verse
Wimmeln von Fehlern, Freund bedenk doch
Wer alles gegen dich ist!" Und Voltaire rief hinüber:
"Gib auf den Sou acht, sie hungern dich aus sonst!"
"Und misch Späße hinein!" schrie Heine. "Das hilft nicht"
Schimpfte der Shakespeare, "als Jakob kam
Durfte ich auch nicht mehr schreiben." - "Wenn's zum Prozeß kommt
Nimm einen Schurken zum Anwalt!" riet der Euripides
"Denn der kennt die Löcher im Netz des Gesetzes." Das Gelächter
Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke
Kam ein Ruf: "Du, wissen sie auch
Deine Verse auswendig? Und die sie wissen
Werden sie der Verfolgung entrinnen?" - "Das
Sind die Vergessenen", sagte der Dante leise
"Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet."
Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der
Ankömmling
War erblaßt.

entstanden ca. 1936/37 in der Zeit, als Brecht vor dem NS-Regime nach Dänemark ins Exil geflohen war


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