6.4. Christoph Ransmayr: Die letzte Welt (siehe 4.5.). S. 60ff.:


... auf einen müden, gleichgültigen Wink also, trat Naso in dieser Nacht vor einen Strauß schimmernder Mikrophone und ließ mit diesem einen Schritt das römische Imperium hinter sich, verschwieg, vergaß! die um alles in der Welt befohlene Litanei der Anreden, den Kniefall vor den Senatoren, den Generälen, ja dem Imperator unter seinem Baldachin, vergaß sich selbst und sein Glück, trat ohne die geringste Verbeugung vor die Mikrophone und sagte nur: Bürger von Rom.
Naso sprach leise wie immer, aber diesmal wurde die Ungeheuerlichkeit seiner Worte tausendfach verstärkt, hallte durch den samtschwarzen, mit Flammen und Sternen besetzten Raum des Stadions, rauschte die Logen, die Balustraden, Sperrmauern und Brüstungen entlang und dann die steinernen Kaskaden hinauf, brach sich erst hoch oben in dieser Unendlichkeit und schlug von dort in verzerrten, metallischen Wellen zurück. Unter den Baldachinen des Hofes verstummte plötzlich alles Flüstern und selbst das Augenspiel und das Wehen der Pfauenfedern auf den Fächern unterbrach. Allein der Imperator saß zurückgelehnt im Schatten seiner Garde und starrte abwesend in das Feuerornament und schien wie taub und schien nicht zu begreifen, daß Naso, diese schmale, vornübergebeugte Gestalt dort in der Ferne, eben das erste Gesetz des Reiches gebrochen und ihm die Verehrung versagt hatte. Und damit nicht genug. Denn scheinbar ungerührt vom Entsetzen hinter seinem Rücken erhob Naso nun seine Stimme und begann die Schrecken der Pest zu beschwören, erzählte von einer Seuche, die im Saronischen Golf, auf der Insel Aegina, gewütet hatte, erzählte von der Dürre eines Sommers, in dem als erstes Zeichen des Unheils Millionen von Schlangen durch den Staub der Felder gekrochen seien und vom Gifthauch, der dem Zug der Vipern gefolgt war; von Ochsen und Pferden, die im Geschirr und vor dem Pflug plötzlich niederbrachen und verendeten, noch bevor ein Knecht sie aus dem Joch nehmen konnte, erzählte von den Bewohnern der Städte, denen der Tod in schwarzen Beulen aus dem Leib brach.
Endlich verdunkelte sich der Himmel und Regen fiel, aber es war nur heißes, übelriechendes Wasser, das die Pest noch in die letzte Zuflucht der Insel schwemmte. Eine große Mattigkeit senkte sich über das Land; die Menschen begannen in Massen unter den plötzlichen Schlägen des Fiebers zu taumeln und sanken dann neben ihr Vieh hin, das schon einen Panzer aus Fliegen trug; vergeblich versuchten die Bewohner Aeginas, ihre glühende Haut an den Felsen zu kühlen, pressten ihre Stirn gegen die Schollen und umarmten die Steine.
Aber diese Glut, sagte Naso, war nicht zu kühlen. An diesem Fieber, sagte Naso, erwärmten sich selbst die Felsen und alles Land. Jetzt krochen die Siechen aus ihren Häusern wie zuvor die Schlangen aus den Rissen und Löchern der Erde und lallten vor Durst und krochen den Vipern an die Ufer der Flüsse, der Seen und Quellen nach und lagen im seichten Wasser und tranken umsonst. Der Durst der Pest war nur mit dem Tod zu löschen. Also starben die Trinkenden und die Spiegel der Gewässer wurden blind.
Wem bis zu dieser Stunde noch die Kraft dazu geblieben war, sagte Naso, der tötete seinen Nächsten aus Mitleid und legte dann Hand an sich, stach zu, stürzte in eine Schlinge oder die Kalkklippen hinab oder fraß als letzte Arznei Kristallscherben und Glas. Aegina verging. Bald gab es keine Erde mehr, um die Leichen zu begraben, keine Wälder, um sie zu verbrennen, und keine Hand, die noch eine Schaufel oder Fackel zu halten vermocht hätte. Allein die Fliegen nahmen sich der Kadaver und der Toten an; smaragdgrün und blau schillernd in ihren Schwärmen und summend lag Aegina unter Wolken im Meer.
An den Abhängen des Berges Oros, sagte Naso, dehnte sich damals das größte aller Leichenfelder aus; dort waren jene Verzweifelten gestorben, die aus der Hitze und dem Verwesungsgestank der Niederungen ins Gebirge zu flüchten versucht hatten. Die meisten Toten lagen im Schatten einer Eiche, des einzigen Baumes weithin; diese Eiche war so alt wie die ältesten Bäume der Insel und mächtig wie eine Festung. In den Narben und Rissen ihrer Rinde und durch die Flechten und Mooswälder ihrer Astgabelungen stürmten Ameisenvölker in schimmernden Strömen dahin, unzählige Insekten, die dem Baum seine dunkle Farbe gaben und ein Aussehen, als bestünde er aus Abermillionen glänzender Schuppen.
Als auf Aegina in diesen Tagen auch die Klage des letzten Menschen verstummt war, verließen die Ameisenvölker ihre Eiche, floßen den Stamm hinab wie das Wasser eines Wolkenbruches, verteilten sich in vielen Adern über die Leichenfelder und ergriffen dort von allen Leerräumen Besitz, eroberten gegen die Übermacht der Fliegen die Augenhöhlen, die offenen Münder, die Bäuche, Gehörgänge und die flachen Senken, die an der Stelle der Pestbeulen geblieben waren. In immer dichteren Scharen rannten sie dahin und schlossen sich in den Höhlungen zusammen, verdichteten sich zu neuen, zuckenden Muskeln, zu Augen, Zungen und Herzen, ja formten, wo Glieder verwest waren und fehlten, Arme und Beine, wurden zu Armen und Beinen und formierten sich zuletzt auch zu Gesichtszügen, zum Ausdruck und Mienenspiel; aus ihren schon verschwindenden Mäulern spieen sie dann weißen Schleim, der auf den Skulpturen zu Menschenhaut erstarrte, und wurden so vollends zum neuen Geschlecht von Aegina, einem Volk, das im Zeichen der Ameisen stand: Es erhob sich schweigend, verließ die Hänge des Oros in Massen und bewegte sich auch in Zukunft nur in Massen fort; es war willig und ohne Fragen und folgte den neuen Herrschern, die von gleicher Herkunft waren, in die Triumphe wie in das Elend der Zeit, ohne Murren durch das Eis der Alpen, über die Meere und durch Wüsten, in Kriege, Eroberungszüge und selbst ins Feuer; es war ein genügsames, starkes Volk, das zu einem Heer von Arbeitern wurde, wo Gräben zu ziehen, Mauern zu schleifen und Brücken zu schlagen waren; in Zeiten des Kampfes wurde dieses Volk zu Kriegern, in denen der Niederlage zu Sklaven und im Sieg zu Herren und blieb durch alle Verwandlungen doch beherrschbar wie kein anderes Geschlecht.
Und was die Eiche der Ameisen für das Glück der Insel Aegina war, sagte Naso dann in den Strauß der Mikrophone und schloß seine Rede, das werde nun und in Zukunft dieses Bauwerk der Sümpfe, das Stadion Zu den Sieben Zufluchten, für das Glück Roms sein - ein Ort der Verwandlungen und Wiedergeburt, ein steinerner Kessel, in dem aus Hunderttausenden Ausgelieferten, Untertanen und Hilflosen ein Volk gekocht werde, so wandelbar und zäh wie das neue Geschlecht von Aegina, so unbesiegbar. Und schwieg.


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