6.2. Aus Ovids Schulzeit


Hermann Fränkel: Ovid - ein Dichter zwischen zwei Welten. Darmstadt 1970. S. 7 (zum Bericht des Seneca maior [controv. 2,2,8] von Ovids Ausbildung in der Rhetorenschule des Arellius Fuscus, wo junge Römer in verschiedene Redegattungen als Voraussetzung für eine politische Karriere eingeführt wurden):

Das Thema [der Proberede] war folgendermaßen: Angenommen, ein gewisser Mann und seine Gattin hatten im Wahnsinn ihrer gegenseitigen Zuneigung einen Vertrag geschlossen, daß kein Ehepartner den anderen überleben wolle. Der Gatte ging auf Reisen und schickte aus der Ferne die Nachricht, er sei gestorben. Die Gattin versuchte, Selbstmord zu begehen, aber dieser mißlang; sie erholte sich wieder. Ihr erzürnter Vater [der in Rom bisweilen die rechtliche Gewalt auch über eine verheiratete Tochter besaß] befahl ihr daraufhin, sich von ihrem Gatten zu trennen, und als sie sich diesem Befehl widersetzte, verstieß er sie. Das Gericht hatte diesen Akt der Verstoßung entweder zu bestätigen oder für ungültig zu erklären ... Ovid verteidigte die törichten Liebenden gegen den Vater, und nach Senecas Erinnerung ... sagte er unter anderem folgendes über die väterliche Einmischung in die Überspanntheit der Ehegatten: "Es ist leichter, die Leidenschaft eines Liebenden zu töten, als sie zu zähmen. Glauben Sie, mein Herr [den Vater anredend], Sie könnten die Eheleute zwingen, die Grenzen zu respektieren, die Sie für sie festsetzen, und nichts ohne gründliche Überlegung zu unternehmen und nur Versprechen nach Art vertraglicher Abmachungen zu geben und alle ihre Worte auf die Waagschalen der Vernunft und des Gewissens zu legen? Auf diese Weise lieben alte Herren."


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