3. Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch, oder: der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München 1977. 114; 122f.


Mit Genuß und Belehrung gelesen

Nie wieder ist mir aus so kleinem Raum einen so große Zahl von Käzen und Originalen begegnet wie im alten "Prager Tagblatt", nie wieder eine so einzigartig aus Witz und Wachheit, aus Begabung und Können gemischte Atmosphäre. Max Brod hat sie in seinem Roman "Rebellische Herzen" festzuhalten versucht. Es ist ihm, fürchte ich, nicht ganz geglückt. Und es wird wohl auch mir nicht glücken. Denn ein fundamentaler Wesenszug dieser Atmosphäre lag ja eben in der unnachahmlichen unverwechselbaren persönlichen Note derer, die sie schufen, im gehaben eines jeden einzelnen, in seinem Tonfall, seiner Terminologie ... es ist immer das gleiche Dilemma: all das eignet sich weit besser zur mündlichen als zur schriftlichen Wiedergabe, für deren Unzulänglichkeit ich wieder einmal um Nachsicht bitten muß.
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Die Geschichte, wie er zum "Prager Tagblatt" kam, ist für beide Teile gleichermaßen typisch. Professor Steiner hatte am Heinrichsgymnasium, einer der wenigen nach dem Ersten Weltkrieg noch übriggebliebenen deutschsprachigen Mittelschulen, Latein und Griechisch unterrichtet. Die Seitenfront des Gymnasiums lag parallel zur Seitenfront des "Tagblatt"-Gebäudes, mit einem schmalen Quergäßchen dazwischen, und wenn die wärmere Jahreszeit begann, öffnete man in beiden Häusern die Fenster. So kam es, daß die Insassen der günstig gelegenen Redaktionsräume auf den seltsamen Pädagogen aufmerksam wurden, der da in einem nah gegenüberliegenden Klassenzimmer seiner Lehrtätigkeit oblag, und sie taten, was sonst nur Sache der Schüler war: sie folgten dem Unterricht. Bald hatten sie heraus, daß jeder Schüler mit einem Spitznamen versehen war, daß immer wieder wilde Heiterkeitsausbrüche erfolgten und daß es der würdigen Lehrperson auf dem Katheder weniger um Würde ging als vielmehr (eigener Aussage zufolge) darum, "nicht nur zu belehren, sondern auch zu unterhalten".
Dieses Prinzip erstreckte sich sogar auf die sonst so gefürchteten "Klassenbuch-Eintragungen", schriftlich festgehaltene Rügen, die dem mangelnden Wohlverhalten des Schülers galten; sie konnten zu einer schlechten, das Jahreszeugnis verunstaltenden Betragensnote, zu Karzerstrafen und im Häufungsfall zum Ausschluß aus der Anstalt führen. Bei Professor Steiner taten sie nichts dergleichen, da er sie lediglich vortäuschte und den Text der fiktiven Eintragung unter lautem Jubel vorlas:
"Die Schielerin Natscheradetz beschäftigt sich mit der Lektiere fragwirdiger Gazetten" (sie hatte unter der Bank ein Modejournal gelesen), "wird von mir ertappt und versucht, durch teerichtes Winseln meiner gerechten Empeerung zu entrinnen."
Oder es vollzog sich die Einführung Ovids in den Lateinunterricht folgendermaßen:
"In unserem Lehrplane erscheint nunmehr Publius Ovidius Naso, wahrlich ein bedeitender Publizist und mit Genuß zu lesen. Es beginne ... in gemächlichen Plaudertone ... aus beiden Backen Bleedheit blasender Bloch!"
Als die an den Fenstern versammelten Redakteure das hörten, stand es fest, daß man Professor Steiner "ins Blatt" bekommen müsse, und kurz darauf vertauschte er das Katheder mit einem Redaktionsstuhl.


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