Velleius Paterculus: Ad M. Vinicium consulem libri duo. Curavit adnotavitque Maria Elefante. Hildesheim, Zürich, New York (Olms-Weidmann) 1997. Bibliotheca Weidmanniana III. 583 S. DM 118,--

Die folgende Rezension wird 1997/98 im Gymnasium erscheinen:

Mit der Vorlage der kommentierten kritischen Ausgabe des Velleius Paterculus schließt Maria Elefante (E.) ihre langjährige Beschäftigung mit diesem Autor ab, die bereits 1992 zur Publikation einer Konkordanz im selben Verlag geführt hat (vgl. Schmitzer, Gymnasium 100,1993,466f.). In der premessa bekennt E., daß sich ihre ursprünglich gehegte Hoffnung nicht erfüllt hat, durch umfangreiche Recherchen in europäischen Bibliotheken das von Beatus Rhenanus 1515 im elsässischen Kloster Murbach entdeckte, nunmehr verschollene Manuskript oder einen anderen, unabhängigen Textzeugen aufzufinden. So entschied sie sich für das traditionelle Verfahren der Textkritik, um den originalen Wortlaut des Velleiustextes möglichst getreu wiederzugewinnen.
E. zeichnet zunächst die Überlieferungsgeschichte nach (1-9). Sodann rechtfertigt sie ihr Unterfangen mit dem Unbehagen an den beiden rezenten Editionen (10-13), der Budé-Ausgabe von J. Hellegouarc'h (1982), wo konservative Textbehandlung vorherrscht, und der Teubneriana von W.S. Watt (1988), der der Paradosis mißtrauisch gegenübersteht und deshalb geneigt ist, zu Konjekturen zu greifen und Textverderbnis und Textausfall anzunehmen. Dagegen würdigt E. ausdrücklich die von A. Woodman in seinen beiden Kommentarbänden (1977 [2,94-131]/1983 [2,41-93]) praktizierte pragmatische Vorgehensweise einer Entscheidung von Fall zu Fall.
Zur Vorbereitung auf ihre eigene Ausgabe hat sich E. tief in den Sprachgebrauch des Velleius, sein Vokabular, seine stilistischen Eigenschaften, insbesondere die Verwendung der Demonstrativa und der chronologischen Angaben, und die Orthographie eingearbeitet und das dabei gewonnene Wissen auch in der introduzione dokumentiert (13-16; 39-45). Auf diese Weise ist ein Kompendium der Velleianischen Sprachverwendung entstanden. Allerdings vermißt man eine Erörterung der Frage, welchen Platz Velleius in der Entwicklung der lateinischen Literatursprache einnimmt, wie es A. Dihle (RE 8A,1955, 655,9-20) schon vor mehr als vierzig Jahren als eine der Aufgaben f˙uur die künftige Beschäftigung mit Velleius gefordert hatte, ohne daß diese Forderung bis heute erfüllt wäre.
Von ihrer soliden Basis ausgehend, verwirft E. eine Reihe von älteren und jüngeren, weitestgehend akzeptierten Eingriffen in den Text der editio princeps des Beatus Rhenanus, wie in 1,1,1 cognominem zugunsten von cognomine (plausibel), in 1,16,3 die Athetese von comicam (wenig überzeugend postuliert sie nova comica als kühne Neuprägung des Velleius ohne Parallele für comoedia nova) oder die Umstellung der Sätze in 2,119-120, der Varusschlacht, durch Delz und Watt (gewiß mit Recht). Insgesamt sind E.s Vorschläge (die hier nicht im einzelnen ausgebreitet und erörtert werden können) stets bedenkenswert und stellen ein wichtiges Korrektiv der Lösungen in den konkurrierenden Editionen dar. Doch der Überlieferungszustand des Textes wie auch die noch keineswegs befriedigende Kenntnis der Literatursprache im frühen Prinzipat insgesamt und speziell auf dem Gebiet der Historiographie läßt den Optimismus, durchgängig eine endgültige, allgemein akzeptierte Lösung finden zu können, als verfrüht erscheinen. Dennoch ist mit E.s Text nunmehr ein wichtiges Arbeitsinstrument für die intensive Beschäftigung mit Velleius geschaffen, das durch Namens-, Sach- und Stellenindizes weiter erschlossen wird.
Damit sind die Stärken der neuen Edition umrissen, die übrigen Teile fallen weniger überzeugend aus. Die introduzione, soweit sie über die Beobachtung des Sprachgebrauchs hinausgeht (19-39), bietet keineswegs ein neues Velleius-Bild, wie der Klappentext auf Italienisch und Deutsch vollmundig ankündigt, sondern ist weitestgehend die Zusammenfassung des durch die neuere Forschung (Starr, Sumner, Woodman, Hellegouarc'h) seit den 70er Jahren erzielten Wissensstandes. Dabei wird vor allem die politische Position des Autors im Rahmen der sich entwickelnden höfischen Gesellschaft sehr pauschal und wenig differenziert gesehen, z.B.: das überaus positive Cicero-Bild des Velleius geriet zwangsläufig in Konflikt mit der Darstellung Caesars als dem Begründer der julisch-claudischen Dynastie (vgl. G. Wirth, Nachlese zu Pompeius. in: Festschrift für P. Klopsch, 1988, 576ff.; nicht bei E.); daß Velleius zuerst zur Anhängerschaft des C. Caesar gehörte, bevor er sich dem Tiberius anschloß, kann angesichts der heftigen Differenzen zwischen den beiden keineswegs unproblematisch gewesen sein; die beständigen Zurücksetzungen, die Tiberius unter Augustus erlitt, mußten für eine harmonische Darstellung kaschiert werden. Daß Velleius ferner 31 n. Chr., im Zuge der Wirren um den Sturz des Seian, umgekommen sein soll, ist angesichts des Fehlens jeglicher external evidence pure Spekulation.
Der beigegebene Kommentar (eine Art running commentary mit dem Hauptaugenmerk auf den Parallelstellen und der Diskussion ausgewählter, meist textkritischer Probleme) bietet für die Arbeit mit dem ersten Teil von Velleius' Werk eine willkommene Hilfe. Ab 2,41 aber ist er nicht viel mehr als die verkürzte, italienische Paraphrase, teilweise gar wörtliche Übersetzung von Woodmans verdienstvollem Kommentar. Besonders störend ist dabei, daß E. auch in der erfaßten Sekundärliteratur zu den historischen Problemen so gut wie nicht über den bei Woodman 1977/83 erreichten Stand hinaus geht, so fehlen - als ein besonders krasses Beispiel - die neueren Forschungen zur Varusschlacht, die seit den achtziger Jahren durch die Funde von Kalkriese einen mächtigen Impuls erhalten haben, vollständig. Auch die literarhistorischen Exkurse, die schon immer zum bescheidenen Ruhm des Velleius beigetragen haben, behandelt E. äußerst knapp (45-47 und jeweils z. St.), ohne die Frage nach der Funktion dieser Digressionen zu erörtern (die einschlägige Untersuchung von K. Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, 1982, 32ff. ist unbekannt). Insofern bietet E.s Edition keineswegs einen "ausführlichen und detaillierten Kommentar, der historische, altertumskundliche, literarische, linguistische, paläographische und metrische Aspekte berücksichtigt" (Klappentext, ähnlich in der premessa), sondern ist lediglich eine Lese- und Verstehenshilfe (was für sich genommen gewiß verdienstlich genug ist), die dem Benutzer aber eigene Recherchen (insbesondere bibliographischer Natur) nicht erspart.
Im Literaturverzeichnis (ein wenig unglücklich zwischen der introduzione und dem conspectus siglorum aufgeteilt) ist die Literatur zu Velleius weitestgehend erfaßt, nachzutragen sind A. Borgo, Velleio Patercolo, Tacito ed il principato di Tiberio, Vichiana 7, 1978, 280ff.; J. McGonagle, Rhetoric and Biography in Velleius Paterculus, Diss. Ohio State Univ. 1970; M. Merker, Das Tiberiusbild bei Velleius Paterculus, Diss. Freiburg 1968; A. M˙oacsy, The Civilized Pannonians of Velleius, in: Rome and her Northern Provinces, Gloucester 1983, 169ff.; E.S. Ramage, Velleius Paterculus 2.126.2-3 and the Panegyric Tradition. ClAnt 1,1982,266ff.; E. Rossi, La tecnica rittratistica in Velleio Patercolo. AFLC 1 (1976-77) 97ff. Daß die neuere Forschungsliteratur zu den allgemeinen historischen und auch historiographischen Problemen nur höchst selektiv erfaßt ist, wurde bereits erwähnt.
Am Ende noch ein Wort zur Präsentation des Bandes und damit zur Rolle des Verlags: Daß die steigenden Produktionskosten einen immer größeren Anteil der Eigenleistung der Autoren erfordern, mag man beklagen, es ist wohl nicht zu ändern. Allerdings sollte ein Verlag, der auf sich und seinen professionellen Sachverstand hält, hier Hilfestellung leisten, was im vorliegenden Fall offenkundig unterblieben ist: Der Seitenspiegel, die gewählten Schriftgrade und der Zeilenabstand sind wenig leserfreundlich ausgefallen, so daß der lateinische Text und der kritische Apparat kaum von einander abgehoben sind und der Kommentar (nicht zuletzt durch den Verzicht auf erläuternde Kopfzeilen) sich der schnellen Suche nach Informationen verschließt. Besonders störend macht sich der Verzicht auf jegliche Worttrennung bemerkbar, was zusammen mit dem Blocksatz zu ungewollten, den Benutzer irritierenden Sperrungen im lateinischen Text wie in den übrigen Teilen führt. Was zur bunten Vielfalt der Schrifttypen in den Indices geführt hat, wird wohl auf immer ein Geheimnis bleiben. Schon nach einmaligem Durcharbeiten beginnt sich im übrigen der Paperback-Einband, der seinen Namen mit vollem Recht trägt, aufzulösen, was angesichts des auch nach heutigen Maßstäben immer noch nicht wohlfeil zu nennenden Preises ärgerlich stimmt.