Ovid als Erzähler 
Interpretationen zur poetischen Technik der Metamorphosen

di FRANZ BÖMER[*] 

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff[1] hat einmal Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen als die beiden "unsterblichen Gedichte der augusteischen Zeit" bezeichnet und damit unterschiedslos zwei Werke der römischen Dichtung aus allen anderen hervorgehoben, deren Eigenart immer wieder zum Gegenstand kritischer Untersuchungen und Vergleiche gemacht worden ist: Gemeinsam ist ihnen der Beginn der Erzählung in der sagenhaften Vorzeit und der Höhepunkt in der augusteischen Gegenwart - ich deute das sehr unterschiedliche Verhältnis der beiden Dichter zu Augustus und das in den letzten Jahrzehnten stark in den Vordergrund getretene Problem eines ovidischen "Anti-Augustanism" hier nur an, dazu später noch ein Wort - gemeinsam sind weite Teile des epischen Stoffes mit dem Thema "Troia und Aeneas" seit dem XIII. Buch der Metamorphosen, gemeinsam die Form - und das ist für die poetischen Vorstellungen jener Zeit kein geringes Kriterium - des epischen Hexameters: Er war seit Homer und Ennius bekanntlich für ein ME/GA BIBLI/ON verbindlich; nahezu gemeinsam ist nicht zuletzt die Sprache, mit der Vergil "bei Ovid allgegenwärtig"[2] ist.

Und doch, um schon einige Fragen anzudeuten, gibt es charakteristische Unterschiede: Vergil ist der Meister des großen heroischen Geschichts- und Weltbildes - in den Metamorphosen liegt das Schwergewicht nicht auf dem Ringthema des Carmen perpetuum, sondern auf der Erzählung, Quintilian spricht ganz richtig von der necessitas res diversissimas in speciem unius corporis colligendi (inst.IV 1,77), ohne daß jedoch das "Kollektivgedicht" - wir sehen, der moderne Terminus ist bereits von Quintilian "vorformuliert" - in einzelne Gedichte zerfiele. Vergil ist der Prophet, Ovid der Erzähler - er ist, wie das W. Fauth[3] sogar für die Fasten feststellte, "naturgemäß zunächst einmal Erzähler", wobei, so E.A. Schmidt in seinem neuesten Buch über Ovid, die kallimacheische elegische Tradition "episch transzendiert wird".  So steht Ovid - wenn auch nicht in den weiten Dimensionen und anders als im Sinne des bekannten Buchtitels von H. Fränkel[4], der Ovid zwischen Antike und Christentum stellte - "zwischen zwei Welten". Man kann diesen Unterschied aber auch noch anders, mit den Maßstäben ihres Jahrhunderts, charakterisieren, mit Horazens aut prodesse volunt aut delectare poetae (ars 333): Vergil will das eine, prodesse, Ovid das andere, delectare. Ich muß auf diese Gemeinsamkeiten und Gegensätze später noch einmal zurückkommen.

Nach dieser (wenn man so will:) ersten Standortbestimmung soll im folgenden von dieser schlichten und doch so genialen Kunst des poetischen Erzählens und nur von dieser die Rede sein - die Italiener sprechen bei solcher Betrachtungsweise von narratologia. Und dabei sollen (und müssen, da mir der Zugang zu ihnen nicht immer leicht fällt) universale Deutungen des Gesamtgedichts und pathetische mystische Formeln außer Acht bleiben.

Und da bietet sich gleich eine der bekanntesten, zugleich aber auch eine amüsante und rührselige Erzählung an, die, eben was ihre Technik angeht, an einigen Stellen seit langem Aufsehen oder gar Anstoß erregt hat: Pyramus und Thisbe. Also: Als die beiden Liebenden an der jeweiligen Seite (IV 79f. parti suae) der berühmten Mauerspalte überdrüssig - als die beiden beschlossen hatten, endlich einmal handgreiflich zu werden, erscheint Pyramus nächtens zum Rendezvous am Grab des Ninus mit einem Schwert bewaffnet. Und wegen dieses Schwertes erhob sich spätestens für den modernen Leser die Frage: War das nun Imponiergehabe des Pyramus oder Tollpatschigkeit - denn beide, sowohl Pyramus wie Thisbe, hatten doch von toto ... corpore iungi gesprochen (IV 74), und dabei wäre ein Schwert überflüssig, zumindest aber unbequem gewesen. Auch die Möglichkeit, die mir gesprächsweise zum Einwand gemacht worden ist, daß etwa Pyramus, an alles denkend, seine Liebste auf jeden Fall vor wilden Tieren habe schützen wollen, kann ich nicht gelten lassen: In eine solche Gegend bestellt man sich nicht sein Mädchen zum Rendezvous. Oder, schließlich, war das der Versuch einer Milieu-Schilderung des Dichters, also etwa der Hinweis auf eine Vorschrift in Babylon für den kleinen Ausgehanzug eines jungen Mannes von Stande oder gar einfache Gleichgültigkeit gegenüber dem Detail, wofür es in den Metamorphosen zahlreiche Beispiele gibt?

Es war, meine ich, nichts von alledem, es war "poetische Notwendigkeit" oder "dramaturgischer Zwang". Denn: Zu der Geschichte gehörte - gleichgültig, ob seit Ovid oder zur Überlieferung - das (oder ein) Aition für den "charakteristischen Farbwechsel [sc. der Früchte des Maulbeerbaums] von weiß über rot bis schwarz(rot)" (Steier, RE 14,2331,46f.), und da kann natürlich - im Aition - nicht eine einzelne Beere des Baumes mit Blut gefärbt werden, da muß sich schon etwas mehr tun, da muß ein ganzer Baum her. Und eben dafür hatte Ovid den - zugegebenermaßen - ungewöhnlichen Vergleich des aufspritzenden Blutes mit dem geplatzten Wasserrohr zur Hand.

Das auf den ersten Blick unsinnig erscheinende Auftreten des Pyramus mit einer Waffe findet so seine Erklärung weder in der Großmannsucht oder in der Trottelhaftigkeit des Trägers noch in der Gleichgültigkeit des Dichters gegenüber dem Detail, sondern in einer wirklichen oder vermeintlichen "dramaturgischen Notwendigkeit": Ohne das Schwert keine heroische Szene, kein Aufspritzen des Blutes bis in den Baum, ohne Blut kein Aition für die Farbe der Früchte.

Um zu verdeutlichen, was ich unter dieser "dramaturgischen Notwendigkeit" verstehe, der ein Erzähler unterliegt, darf ich auf das bekannteste Beispiel aus der deutschen Nationalliteratur hinweisen: Daß Kriemhild dem Hagen von Tronje die Stelle an der Schulter nannte, an der Siegfried verwundbar war, war, taktisch gesehen, absoluter Unsinn: Hagen hätte nie diese kleine Stelle von der Größe eines Lindenblattes vor einem anfliegenden Geschoß schützen können, es sei denn, er hätte dauernd mit erhobenem Schild hinter Siegfried gestanden. Wenn Kriemhild in ihrer Naivität das nicht bedachte, der Dichter mußte es wissen, und trotzdem gestaltete er diesen waffentechnischen Unsinn auch noch zu dem zentralen Motiv der Erzählung: Das war dramaturgische Notwendigkeit, er mußte es, denn ohne den Tod des ansonsten unverwundbaren Siegfried hätte er die Erzählung nicht zu dem vorbestimmten Ende führen können.

Neben diesem Zwang der poetischen Dramaturgie wirkt in der ovidischen Erzählung der Zwang der poetischen Tradition; das Musterbeispiel, diesmal aus Vergil: Hera verspricht bei Homer, um ganz sicher zu gehen, daß Zeus eine Zeitlang Griechen und Troer vergißt, dem Hypnos, wenn er den Vater der Götter; in einen tiefen Schlaf versetzt, Pasithea, eine ihrer Charites, zur Ehefrau, sèn keklêsthai ákoitin, Il. XIV 268. Und sie hat ihr Versprechen gehalten, Pasithea wird die Gattin des Hypnos. Als später Iuno bei Vergil, in vergleichbarer Bedrängnis, an Aeolus die Bitte richtet, er solle zur Zerstörung der Flotte des Aeneas einen Seesturm erregen, verspricht sie diesem, homerischem Vorbild entsprechend, ebenfalls ein Mädchen, Deiopeia, eine ihrer vierzehn Nymphen. Und die Folge: Die Vergil-Erklärer haben, spätestens seit Servius, ihre Mühe, eine Antwort auf die Frage zu finden, wieso Iuno, die Hüterin der Ehe in Rom, dem verheirateten Aeolus ein Mädchen habe anbieten können. Und die Antwort, etwa: Die Frau des Aeolus müsse inzwischen verstorben sein, oder Iuno habe vergessen, daß Aeolus Frau und Kinder habe. Diese Antworten zeigen, zu welchen Komplikationen die Macht der Vorbilder aus der poetischen Tradition führen kann.

Eine Besonderheit dieses Zwangs der poetischen Tradition ist der Themenkreis "poetische Attribute". Wenn etwa im heroischen Bereich ein Mann mit Pilos, der Schiffermütze dargestellt wird, dann weiß man (oder sollte man wissen), daß es sich um Odysseus handelt, und so trägt er den Pilos gelegentlich auch dann, wenn er gar nicht zur See fährt - nach dem poetischen Gesetz, daß Achilles auch dann pódas okús ist, wenn er nicht läuft - also Odysseus mit dem Pilos beim Kampf vor Troia und auch beim Raub des Palladions. Er trägt ihn auch auf einem Gemälde von Fr. Preller d. Ä. (1864) in der Schack-Galerie in München.

Hier wäre auch Hermes zu nennen, der bei Ovid mit dem Petasos eingeführt wird (I 672). Die in der christlichen Kunst bekanntesten Attribute sind wohl die der 12 Apostel, die nicht nur in früherer Zeit dem nicht bibelfesten oder gar des Lesens unkundigen Betrachter sagten: Der mit dem Schlüssel ist Petrus, der mit dem Kreuz Andreas usw.

Und um nun auf Ovid zurückzukommen: Ovid ist der erste, der die Dioskuren, die Göttlichen Zwillinge, als Teilnehmer an der calydonischen Jagd auftreten läßt, und hier hätte er, nach modernem Verständnis, die Möglichkeit zu freier Darstellung gehabt. Er nutzt sie auch, aber mit wenig Erfolg: Die Dioskuren kommen zur Jagd als einzige Teilnehmer zu Pferde, auf ihren weißen Rossen - das sind ihre archäologischen "Markenzeichen" - sie nehmen sich dadurch aber in der übrigen Jagdgesellschaft, die zu Fuß gekommen ist, nicht nur merkwürdig deplaciert aus, sie erreichen auch nicht mit ihren Pferden, denn der Eber verschwindet listigerweise sofort im Unterholz. Ovid hat, wie aus XIV 358ff. (Picus und Circe auf der Jagd - davon soll später noch die Rede sein) hervorgeht, gewußt, daß man zur Saujagd besser zu Fuß, antritt, eben weil das Tier sich sofort drückt; er hat damit seine Dioskuren durch ihr "Markenzeichen" mehr oder minder unfreiwillig lächerlich gemacht: Hier ist nicht nur die poetische, sondern auch die künstlerische Tradition im weiteren Sinne und die Lust zu fabulieren stärker als, man möchte beinahe sagen, der gesunde Menschenverstand.

Der Themenkreis "Markenzeichen" zeigt seine verbindliche Kraft auch noch in einem anderen Fall: Für Hercules ist das Löwenfell eines seiner bekanntesten Attribute, auf Vasen aus Kyme trägt er es schon vor dem Kampf mit dem Löwen - es ist eine "Hieroglyphe der Tapferkeit" (auch dies ein Terminus aus der Archäologie), und es ist von solcher Bedeutung, daß Ovid auch seinen Helden Cadmus damit auszeichnet, wiederum, soweit ich sehe, in dichterischer Freiheit, als einziger: Cadmus tritt an zum Kampf mit dem Drachen, schleudert zunächst einen lapis molaris, einen Mühlstein, auf den Gegner (III 59); er tötet ihn schließlich, indem er ihn an einen Baum spießt (III 90ff.), und zwar so, daß der Baum sich biegt und unter den Schlägen des Drachenschweifs stöhnt. Für die Darstellung eines solchen Kampfes im allgemeinen und des thebanischen Drachenkampfes im besonderen waren bestimmte literarische Elemente vorgegeben: Den Angriff des Cadmus mit einem Stein kennt schon Hellanikos (FGrHist 4 F 96), da ist es ein líthos, bei Euripides wird ein mármaros daraus (Phoen. 663), später auch bei Nonnos (IV 409).

Der Stein ist also Bestandteil der Tradtion, der Mühlstein aber hat, ebenso wie das Löwenfell, sein Vorbild in einer anderen Tradition, in dem Kampf des Hercules gegen Cacus bei Vergil: Hercules greift mit molares, Mühlsteinen, also gleich mehreren, an, Aen. VIII 250, wobei molaris zum ersten Mal substantiviert, statt lapis molaris, verwendet wird. Und Ovid ist an unserer Stelle der erste Dichter, der Vergil darin folgt. Hier wiederum stehen beide Dichter im Banne einer weiteren, alten epischen Tradition: Vor Troia bricht Aias im Kampf mit Hektor den Schild seines Gegners mit muloeidès pétros, Il. VII 270, und im XII. Buch krachen die Helme der Kämpfenden unter dem Anprall der múlakes (XII 161). Daß es sich in alle den Fällen nicht um Original-Mühlsteine handelt, haben schon die antiken Kommentatoren angemerkt. Das gilt übrigens auch für die bekannten biblischen Mühlsteine, von denen sogar nur ein fragmen molae mit tödlichem Erfolg von einer Frau geworfen sein soll (Vul. liber iudicum 9,53).

Dieser "dramaturgische Zwang" oder, im weiteren Sinne, diese "poetische Zweckmäßigkeit" gilt auch in einem anderen Fall, in dem bei Ovid die Kleiderordnung seiner Akteure eine Rolle spielt. Dazu zunächst eine Vorgeschichte: Im XIV. Buch (261ff.) bietet sich für Macareus Gelegenheit zu erzählen, was er in dem "magischen Laboratorium" der Circe auf der Insel Aiaie (heute Monte Circeo auf dem Kap San Felice westlich von Terracina) gesehen hat, und bei der Lust zu fabulieren - auch dies ein tragendes Element der Erzähltechnik Ovids - geht ihm einmal mehr die Phantasie durch: Erstens, er ernennt Nereiden und Nymphen zu Zauberlehrlingen der Circe - soweit ich sehe, ohne Parallele in der antiken Literatur - und zweitens geschieht ein wesentlicher Teil der "Giftmischerei", die ihrem Wesen nach in jeder Hexenküche unter "streng geheim" eingestuft wird, einschließlich der Zugabe der für die Ankömmlinge bestimmten Gifte (suci, XIV 275) unter den Augen ebendieser Ankömmlinge: Das sagt Macareus nicht expressis verbis, aber er kann, wenn man seiner Geschichte Glauben schenken soll, das, was er hier erzählt, doch nur selbst gesehen haben. Hier passen, wie auch sonst nicht selten bei Ovid, die farbige, lebendige Erzählung und die Wirklichkeit einfach nicht zusammen. Ovid erzählt, weil es ihm Freude macht, diese bunte, fremde Welt zu schildern.

Nach dieser Charakteristik der weiteren Szene zurück zu Macareus, zu Kleiderordnung und "poetischem Zwang": Pyramus fiel, da er mit einem Schwert zum Rendezvous ging, durch einen, wie man heute in multikulturellem Deutsch sagt, ungewöhnlichen Outfit auf, und Ähnliches gilt auch für Picus in der Erzählung der Magd der Circe, XIV 308ff., von der Macareus berichtet. In beiden Fällen besteht kein Zweifel, daß hier Ovid und nicht etwa die Tradition spricht: Bekanntlich trägt ein Jäger noch so hohen Standes auf der Jagd ein Lederwams o. dgl.; Picus aber, König in Ausonien, erscheint im Purpurgewand mit goldener Spange, recht wie ein Operettenprinz. Und da ist dann vor kurzem die Frage gestellt worden, wieso Ovid dazu kommt, das Bild des jungen Königs so merkwürdig zu verzeichnen. - Und die Antwort: Ovid, als Widerstandskämpfer, habe Monarchen gehaßt, er habe in einem Monarchen der Frühzeit den Monarchen der Gegenwart, Augustus, und dann konsequenterweise auch - dazu später -, in anderen Szenen Apollo, den Schutzgott des Augustus, der Lächerlichkeit preisgeben wollen.

Hier sind wir wieder bei dem Problem des sog. Anti-Augustanism, an sich ein Gegenstand für einen weiteren abendfüllenden Vortrag, deswegen hier nur kurz: Ovid war weder ein Jacobiner - Lundström[5] kleidet den angeblichen Haß des Dichters in die jakobinische Formel "Könige sind Schurken, gerade weil sie Könige sind" -, noch war er der Schwurheilige der Widerstandkämpfer "in den Katakomben Roms" (so Christoph Ransmayr[6]); er war - auch dies multikulturelles Deutsch - allenfalls ein "Nonconformist", und auch das kann ja schon, beinahe zu allen Zeiten, gefährlich werden.

Seitdem im 20. Jahrhundert in der Weltpolitik Tyrannenhaß und Widerstand einen bis dahin unbekannten weltpolitischen Stellenwert gewonnen haben, ist auch im philologischen und in dessen Gefolge im journalistisch-literarischen Bereich eine geradezu erstaunliche Tendenz zu beobachten, hier rechtzeitig mit von der Partie zu sein: Sicher, Augustus war kein Demokrat, und man sollte ihn nicht mit demokratischen Maßstäben messen. Nachdem nun die Debatte um carmen et error für Ovid zu keinem rechten Ergebnis geführt hat, so werden neuerdings - Ursprung und Wort Anti-Augustanism sind m.W. britisch - wurden seit wenigen Jahrzehnten Thesen laut, die Metamorphosen hätten wegen einer antimonarchischen, speziell antiaugustischen Grundhaltung den Ausschlag für die Relegation gegeben. Lundström verkennt mit seiner Formel "Könige sind Schurken, gerade weil sie Könige sind", m.E. die Situation völlig. Ich nenne nur aus eben jenen Jahren die Diskussion um Philodems Schrift perì agathoû basiléos und in unseren Tagen die Arbeit von R. Klein, Königtum und Königszeit (1962). Es gibt m.E. in Wirklichkeit keinen echten Beweis für diesen Haß des Dichters gegen Augustus, und die Verallgemeinerung "Könige sind Schurken ..." ist sogar einfach falsch: Romulus war für Ovid ein guter König, und Numa Pompilius auch. Zudem möchte ich der Umgebung des Kaisers nicht die Naivität zumuten, den genialen Heuchler - wie L. Deubner sagte - und Schurken Augustus nicht durchschaut zu haben: Augustus war für seine Zeit der Friedensbringer, nach Jahrzehnten der Bürgerkriege - vielen von uns, in einer anscheinend gesicherten Ruhe, mag es schwerfallen sich vorzustellen, was das bedeutet. Für Th. Wilder war 1948 Caesars "Ich habe der Welt den Frieden gebracht" noch der Ausdruck eines unmittelbaren Erlebens - als Friedensbringer war Augustus für seine Zeit ein theòs epiphanés, lateinisch ein deus praesens. Vergil sprach so gleich in seiner ersten Ekloge, und Horaz richtete an ihn die Worte serus in caelum redeas. Und für den Fall Ovid im besonderen (erstens): Sie waren wirklich zu verschieden, er und der Princeps: Kein Wunder, wenn sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen und der Mächtigere offensichtlich geglaubt hat, durch die Entfernung dieses wirklichen oder vermeintlichen ("die janze Richtung paßt uns nicht") Freigeistes der Libertinage in Rom Einhalt gebieten und die mores antiqui schützen oder wiederherstellen zu können. Er ging ja gegen seine eigene Familie ebenso rigoros vor. Und zweitens: Ovid hat von Tomis aus (trist. II 555ff.) Augustus ausdrücklich auf die Metamorphosen als Beweis seiner Loyalität hingewiesen, müßte also darauf vertraut haben, Augustus werde schon nicht merken und (oder) er und seine Umgebung habe bisher nicht nicht gemerkt und werde auch in Zukunft nicht merken, daß alles, was in diesem Gedicht den Kaiser persönlich berühren kann oder auch augusteisch-augustisch klingt, in Wirklichkeit verschlüsselte Widerstandsdichtung sei (Komm. zu XIII 623ff. S. 365. XV 1ff. 745ff.[7]). Soviel selbstmörderische Dummheit oder instinktlose Heuchelei kann ich mir einfach nicht vorstellen.

Was nun bei Picus des Königs bunten Rock angeht, so ist hier nur eines sicher: Ovid brauchte für die Verwandlung des Picus in einen bunten Vogel, nämlich in einen Specht, einen Mann in bunter Kleidung. Wenn dem Dichter unterstellt wird, er sage Picus und meine Augustus, so scheint es, daß aus Ovid, dem Urjakobiner und Schwurheiligen der Résistance, jetzt auch der Urvater eines politisch-journalistischen Doppeldenkens gemacht wird, das G. Orwell "double think" genannt hat: Ovid macht sich auch über Apollo lustig und meint Augustus, und vielleicht auch - Ovid sagt Theseus und meint wiederum Augustus. Darüber später noch ein Wort. Hier besteht, meine ich, wirklich die Möglichkeit und die Gefahr, daß in den Text hineingelesen wird, was man aus ihm herauslesen möchte.

Jetzt noch einmal zum Drachenkampf des Cadmus. Er führt in einen weiteren Bereich der poetischen Technik, der literarischen (heroischen) Überhöhung (exaggeratio): Der Drache, von der Größe der Schlange oder des Drachen zwischen dem Großen und Kleinen Bären am Himmel ist jetzt von dem Mühlstein des Cadmus getroffen, richtet sich auf, höher als ein ausgewachsener Baum, longa trabe rectior (III 78), stürzt dann, wie ein vom Regen geschwollener Fluß heran und zermalmt mit seiner Brust die Bäume des Waldes, obstantes silvas (III 80): Gewaltiger geht es nun wirklich nicht, vor allem, wenn bedenkt, daß das Tier in der bildenden Kunst zumeist mittleres Haustierformat besitzt, also etwa eines draco domesticus. Solcher exaggeratio - auch hier gibt es Vorbilder bei Vergil - begegnet man als einem Element der poetischen Technik an vielen Stellen, etwa bei der Jagd: Wenn Götter und Menschen jagen - Diana, Apollo, Actaeon, Callisto, Narcissus, Cephalus -, dann erlegen sie das Wild gleich reihenweise. Ein Sonderfall ist Apollo, und da geht dem Dichter wieder einmal die Phantasie durch: Der Körper der Schlange Python - Ovid nennt ihn maximus (I 438) - bedeckt einige iugera (I 459), das sind, wenn man für tot iugera, wie es bei Ovid heißt, als geringsten Multiplikator etwa die 3 annimmt, nach römischer Rechnung etwa 85 000 Quadratfuß. Und weiter: Schon bei Simonides hatte Apollo hundert Pfeile abgeschossen, bei Ovid braucht er gar mille tela, und einen Rest hatte er, wenn man zynisch sein will, nach wunderbarer Pfeilvermehrung, noch im Köcher, exhausta paene pharetra (I 443). So stellt sich nach all diesem die Frage, ob und gegebenenfalls was sich der Dichter bei solcher Schilderung gedacht hat: Hat Apollo, der berühmteste und sicherste Schütze unter den Göttern, argyrótoxos hekebólos, wie jedes Kind seit dem I. Buch der Ilias weiß (oder: wußte), der Gott, der sich wenig später bei Ovid sogar der Treffsicherheit seiner Pfeile rühmt (I 519), hat Apollo wirklich so schlecht geschossen, daß er mille tela brauchte, hat Ovid sich einen Scherz erlaubt, hat er nur Simonides übertreffen wollen, hat er gar, ich deutete das bereits an, als Widerstandskäpfer, den Schutzgott des Augustus als schlechten Schützen lächerlich machen wollen - oder hat er "sich einfach nichts dabei gedacht"? Ich meine: Bei der hier deutlich intendierten Überhöhung menschlichen Tuns in Überdimensionale sollte man nicht mir menschlichen Maßstäben messen.

Ganz kurz noch zum Themenkreis "heroische Überhöhung": VI 549ff. Die Tat des Tereus, von der später noch die Rede sein wird; VII 534ff. Die Pest auf Aegina; IX 176ff.. 182ff. Der sterbende Hercules auf der Oeta, der mehr Taten aufzählt, als der klassische Dodekathlos enthält; XII 210ff. Der Kampf der Centauren und Lapithen; XIII 561ff. Die brutale Rache der unglücklichen Hecuba. - Nicht heroisch, sondern geradezu makaber scheint mir, außer etwa der Tereus-Szene, der Vergleich der Todeswunde des Pyramus mit einem geplatzten Wasserrohr, makaber und beinahe zynisch III 305ff. die tela secunda Iuppiters, ein levius fulmen, mit dem er Semele tötet, also eine Art "Blitz für den kleinen Hausgebrauch". Makaber schließlich etwa noch XII 420ff.: Cyllarus, im Centaurenkampf, erleidet "nur" ein parvum vulnus, aber das ist tödlich, und Ilioneus, der letzte Sohn der Niobe, gar nur ein minimum vulnus, eine "klitzekleine Wunde", der Pfeil des Apollo hat "nur so eben" getroffen, non alte, VI 266ff., aber immerhin, das Herz.

Angesichts dieser Szenen - es gibt deren noch einige mehr - muß hier ein Wort über das persönliche Verhältnis Ovids zu solcher Art von erzählter Brutalität gesagt werden. Der Kommentar von Haupt-Ehwald[8] spricht denn auch bei der Tereus-Szene von Geschmacklosigkeit und der "alexandrinischen Neigung Ovids für das Schreckliche und Gräßliche" (VI 560), und H. Fränkel erklärt die Schilderung des Centaurenkampfes mit einer Affinität zu einer gewissen Gladiatoren-Mentalität. Frécaut[9] (202) bezeichnet die Tereus-Szene als einen Akt von "déshumanisation" und "convoitosie bestiale". Wenn ich dieser offenbar weit, aber nicht allgemein verbreiteten Ansicht widerspreche, so geschieht das nicht aus Voreingenommenheit für eine mir seit einigen Jahrzehnten liebgewordene Dichtung, sondern, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, um eine optische Fehleinschätzung zu korrigieren. Ennius beschreibt zweimal ähnliche Abscheulichkeiten, und Heinze nennt für Vergil derlei gleich reihenweise. Warum also gerade Ovid, und nicht auch Ennius und Vergil? Hier finden sich in den letzten Jahrzehnten (etwa bei Fuhrmann[10] und Frécaut) Ansätze zu einer gerechteren Beurteilung: Die poetische Tradition seit Homer, das Bemühen um barocke Übersteigerung, "la recherche extravagante" (Frécaut 13), "die Technik der isolierten Szene und der Stimmungskontrast" (Fuhrmann 66) und der Geschmack der Zeit, wie später nicht Seneca zeigt (Fuhrmann 45ff.), dann, ich darf hinzufügen, der Zwang zur variatio, ein für die Antike so selbstverständliches und so simples Element der poetischen Technik, daß es heute am ehesten vergessen wird.

Dazu ein letztes Beispiel, Polyphem: "Der Kannibalismus hat seit jeher in Polyphem seinen Archetyp": So Fuhrmann 35, und er verweist wiederum auf Ennius (ann. 321f. V. 319 Sk.), wo von dem vom Menschenfleisch geschwollenen Bauch des Kyklopen die Rede ist. Vergil schildert diesen dann als brüllendes Ungeheuer, mit ungewöhnlichen Synaloephen, monstrum horrendum informe ingens, III 658. Auch Ovid erwähnt dessen fluidos humano sanguine rictus, Achaemenides erwähnt sie en passant, XIV 168. Die beherrschende Polyphem-Gestalt der Metamorphosen ist aber nicht der Kannibale, sondern der Möchtegern-Galantuomo der burlesken Galatea-Geschichte, dem Ovid auch noch eine Weltweisheit in den Mund legt: pauperis est numerare pecus, "Nur wer arm ist, zählt sein Vieh", XIII 824 - alles in allem eine echte Eulenspiegelei und vielleicht einer der schönsten Beweise für die Art, wie selbständig Ovid, wenn er erzählt, klassischer Tradition und ihrem Zwang gegenüberstehen kann. In summa: "Le bon Ovide, n'a rien d'un voyeur sadique", so H. Le Bonniec[11] mit einem Zitat von Montaigne.

Die Einordnung der - ich bleibe bei dem Stichwort - "Gladiatoren-Mentalität" in die Technik der poetischen Motive führt hier zu der Gegenwelt, Gianpiero Rosati[12] sprach 1976 von "la presenza dell'Elegisches", und da nenne ich nur zwei Themen, die Erotik und das Motiv "gemeinsamer Tod, gemeinsames Grab".

Zum ersten: F. Altheim[13] hat einmal von den Fasten Ovids gesagt, unter seinen Händen ergreife "ein Prozeß der Erotisierung alles, dessen er habhaft" werde, und neuerdings hat sich J.-M. Frécaut (246) mit Berufung auf Fränkel und Wilkinson[14] wieder eindeutig zum Thema geäußert: "L'amour tient une large place dans les Métamorphoses", wenn auch nicht als "thème principal", so doch als "thème secondaire le plus important du poème".

Zum Thema "Erotisierung" also etwa: Apollo und Daphne (I 489ff.), in einer Szene, von der Br. Snell[15] einmal sagte, hier werde "die Welt der griechischen Götter so etwas wie eine Bohème und ein Arkadien zu gleicher Zeit" - dann (IV 358ff. 370) Hermaphroditus und Salmacis in einer auch sonst perfekt erotischen Szene, in der zudem die bittenden Worte des Odysseus an Nausikaa bei Homer (Od. VI 149ff.) zu einer Liebeserklärung, wie man heute sagt, "verfremdet" werden (Frécaut 119). - Die Aufforderung der Venus an Amor, einen seiner Pfeile auf Dis-Pluto abzuschießen: Auch er hat mille sagittas in seinem Köcher, wie früher Apollo gegen Python (V 379ff.). - Byblis hat sich lange gegen diese Pfeile gewehrt, mit wenig Erfolg (IX 543f.). - Ovid legt schließlich dem Orpheus, als dieser von amores junger Menschen erzählen will, mit levior lyra (X 512) geradezu einen Terminus der erotischen Elegie in den Mund. - Dann aber vor allem Iuppiter: Neben Hera, seiner Rechtmäßigen, nennt Schwabl in seinem RE-Artikel "Zeus" mehr als 100 weitere Frauen; sie sind seit Homer ein primär episches Thema und dann speziell die plurima furta Iovis seit Catull. 68,140 ein beliebter Gegenstand nicht-epischer Dichtung, von Kennern der Szene mit einem gewissen Augenzwinkern begleitet: Diese "diverses aventures amoureuses" (Frécaut 247) werden in den Metamorphosen als bekannt vorausgesetzt und respektlos als solche bezeichnet: I 606 und 623 Io, II 423 Callisto, III 7 Europa, III 266 Semele, und so weiter. Und noch einmal Iuppiter: Er treibt mit Iuno remissos, also etwa: lockere Scherze, iocos, und entsprechend locker ist dann die Behauptung seiner Gattin gegenüber (die ich hier vorsichtshalber lateinisch wiedergebe): maior vestra (i. mulierum) ... est quam quae contingit amoribus ... voluptas (sc. coeuntibus), auch dies ein Spitzenthema hellenistischer und römischer erotischer Poesie - Eine Anwort auf diese Frage hat übrigens Leo Tolstoi in seiner "Kreutzersonate" gegeben. - Und ein drittes Mal Iuppiter: Bei der Darstellung der Götter auf dem Kunstwerk der Arachne führt Iuppiter den Reigen der adulteria an: Europa, Asterie, Leda, Antiope, Alkmene, Danae, Aegina, Mnemosyne, Proserpina, VI 103-114.

Wie bei dem Vorwurf der Gladiatoren-Mentalität, so stellt sich auch hier die Frage nach der Erotisierung, die alles ergreift, dessen der Dichter habhaft wird, und - im weiteren Sinne - die Frage nach der Frivolität, die man Ovid zum Vorwurf gemacht hat: Mir scheint auch hier, daß dem Geschmack der Zeit, literarischer Tradition, poetischer Technik, speziell der Technik, Bekanntes einmal anders zu sagen oder gar zu übertreffen, also einer Lust am virtuosen Spiel des Fabulierens über die Dinge und ihre Grenzen, der Vorrang zukommt vor einem wie auch immer gearteten Bekenntnis oder dem Ausdruck einer, sagen wir, nach engen Moralvorstellungen eigenartigen Persönlichkeit: Ovid war weder ein voyeur sadique noch ein voyeur lascif, Tolstoi, soweit ich weiß, auch nicht.

Jetzt das zweite Motiv innerhalb der "presenza dell'Elegisches", Stichwort "una in urna", Aida-Motiv: So will Thisbe zusammen mit Pyramus bestattet werden, IV 157ff. - Narcissus: nunc duo concordes anima moriemur in una (III 473) - Lycabas blickt auf Athis, et tulit ad manes iunctae solacia mortis (V 73). - Philemon und Baucis: Gemeinsamer Tod, gemeinsames Grab (VIII 709f.), später nicht Dryope und Lotis (IX 362), Cyllarus und Hylonome (XII 709f.). Ich erinnere an Nisus und Euryalus bei Vergil und nenne eine Sarkophag-Inschrift aus S. Maria sopra Minerva v.J. 1480 ... una dies ... una ... una meos cineres condet et urna tuos; ich hoffe, demnächst in einem Zeitschriftenbeitrag ausführlicher auf dieses Motiv eingehen zu können.

Als drittes Motiv innerhalb der "presenza dell'Elegisches" möchte ich mit eigener Wortschöpfung die "presenza dell'Idyllisches" hinzufügen, etwa Pomona in Latium (XIV 623ff.) und vor allem natürlich, wiederum, Philemon und Baucis.

Nun ein anderes Thema: Innerhalb des Bereiches dramatischer oder auch dramaturgischer Überhöhung erscheint, so hatte vor langer Zeit R. Heinze[16] bemerkt, hier und da bei Ovid eine deutliche Tendenz, Personen und ihre unguten Taten in dunkleren Farben darzustellen, als das die ältere Überlieferung getan hat - also wiederum eine Wirkung einerseits der literarischen Tradition und andererseits der Tendenz zu Variation und Überhöhung - Personen und Taten gewinnen auf diese Weise deutlicheres Profil, speziell: Bösewichter erscheinen bei Ovid oft noch böser. Das gilt für Lykaon, Erysichthon, Medea. Dazu hier, exempli gratia, ein Wort über die lykischen Bauern. Sie sind bei Ovid grober als bei Nikander, dem Vorbild Ovids: Latona will nicht, wie die Überlieferung sonst sagt, ihre kleinen Kinde, die sie auf der Flucht vor Iuno an der Brust trägt, in der Viehtränke waschen, sie will nur, von Flucht und Hitze erschöpft, Wasser für sich und ihre durstigen Kinder. Bei Ovid gibt es keine Viehtränke, nur ein stagnum, also kaum mehr als eine Pfütze, und auch dies bißchen Wasser gönnen diese Rüpel der Göttin nicht, und zwar nicht, daß, sie ihr nur den Zutritt verwehren, sie trampeln in der Pfütze herum und wühlen den Schlamm auf - einerseits ein Musterbeispiel für die Tendenz, Bösewichter noch böser zu zeichnen, andererseits aber auch des eine diskutiertes Problem der der Erzähltechnik des Dichters: Es ist vielfach bemerkt worden, daß Ovid innerhalb seiner Dichtung ab origine mundi ein wenig sorglos mit der Chronologie umgehe, und diese Feststellung gilt darüber hinaus, und mit Recht, als Zeichen für eine gewisse Selbständigkeit der einzelnen Erzählung gegenüber dem Ganzen, eine Frage, die nur eine Seite des erzähltechnischen Problems darstellt. Als Paradefall einer solchen sorglosen Behandlung gilt, was Ovid an zwei Stellen über Apollo sagt: Im I. Buch erlegt der Gott, voll erwachsen, den Drachen Python, verhandelt er mit Amor, verfolgt er Daphne (I 438ff.), und einige tausend Verse weiter, im VI. Buch, trägt Latona ihn bei den lykischen Bauern als Säugling an der Brust. Und doch ist gerade dieser angebliche Verstoß gegen die Chronologie ein Interpretationsfehler: In I erzählt Ovid selbst, in VI bringt er den Bericht eines sonst unbekannten Mannes aus Lykien, der eine Geschichte aus Lykien, der eine Geschichte aus der grauen Vorzeit erzählt: Widersprüchliche Chronologie ist das also nicht, wohl aber, von der poetischen Technik her gesehen, wiederum ein Kriterium für eine gewisse Selbständigkeit einzelner Erzählungen innerhalb des Ganzen.

Als ein rein handwerkliches Moment der poetischen Technik Ovids gilt weiter seine Kunst der Überleitungen von einer Erzählung zur anderen. Schon Quintilian (IV 1,77) spricht von der necessitas res diversissimas in speciem unius corporis colligendi. Es geht da um Formeln wie "alle ..., nur einer nicht" und "alle, unter ihnen auch", bis zu Rahmenerzählungen und Erzählungen in der Erzählung. Es würde zu weit führen, hier auf Einzelheiten einzugehen. Es gibt dazu eine eigene Dissertation[17] und, wiederum, einen Beitrag von Frécaut[18].

Jetzt, nach diesen Ekphraseis, zu denen die lykischen Bauern führten, ein letztes Beispiel für Ovids Bösewichter: Tereus. Zu dieser Sage gehört seit alters die Nachricht, daß Tereus seiner Schwägerin Philomela die Zunge herausgeschnitten habe. Damit sollte das unverständliche Zwitschern der Schwalbe erklärt werden, in die Philomela später verwandelt wurde (Nilsson GGR I3 30f. spricht von Tieraition und Märchenmotiv). Ovid schildert nun ausführlich und m.W. anderweitig in dieser Form nicht überliefert, wie Tereus dazu ein Schwert - hier darf wiederum an Pyramus erinnert werden (exaggeratio) - und eine Zange für seine Tat braucht, und im weiteren wird die Überhöhung (oder Übertreibung) geradezu geschmacklos ("cette mutilation sadique", so J.-M. Frécaut), wenn die herausgeschnittene Zunge noch eine Zeitlang, unverständliche Worte murmelnd, sich auf der Erde weiterbewegt, wie der abgeschlagene Schwanz einer Schlange, mutilatae cauda colubrae. Auch dieses Motiv ist keine Erfindung Ovids; es finden sich Vorbilder bei Homer, Ennius und Vergil, später ein Nachfolger in Statius. Bei Ovid wird dieses Motiv proprio motu ins Groteske übersteigert; daher dazu hier noch ein kurzes Wort.

Grotesk wirken in der Schilderung des Kataklysmos die Fische in der Ulme und die Delphine in den Wäldern - das hat dem Dichter schon die Kritik Senecas eingetragen, Ovid habe tantum impetum ingenii et materiae ad pueriles ineptias "reduziert" (reducere; "rabaisser" sagen die Übersetzungen von Oltramare und Frécaut 13). - Grotesk: Python bedeckt tot iugera, 85 000 Quadratfuß Boden. - die Kuh Io weint. - Cadmus, schon halb Schlange, noch halb Mensch, weint, und kurz darauf, jetzt schon ganz Schlange, lambebat coniugis ora (IV 595), "leckte das Antlitz der Gattin", so die Übersetzung von Breitenbach, "léchait", so Lafaye - aber, wenn man weiß, zu welch hintergründigem Humor der Dichter fähig ist, dann hat man, hier zur Abwechslung eine grammatische Frage, die Wahl, lambebat als Imperfectum conativum oder iterativum zu verstehen, - und so weiter. Für die Darstellung des Grotesken und Makabren bei Ovid gibt es zwei ausführliche Übersichten wiederum von J.-M. Frécaut.[19]

Nach soviel Grausamem, Groteskem, Absonderlichem noch ein Wort über ein Element der poetischen Technik im engeren Sinne, über die einfache Handhabung der Sprache: Bei Schanz-Hosius ist Ovid, der von sich selbst sagen konnte, ... quod temptabam scribere, versus erat (trist. IV 10,26), der unerreichte Virtuose der Form (Gesch. d. röm. Lit. II4,1935,259), und, ich füge hinzu, der Leichtigkeit der Sprache, der Pointe und der Formulierung einfacher menschlicher Weisheit. Dazu nannte ich bereits Polyphem mit seinem pauperis est numerare pecus, und nenne, neben vielem anderem Bekannten, das ich hier aus Zeitgründen übergehen muß, ein m.W. weniger bekanntes Dictum mit möglicherweise politischer Brisanz, VIII 406f. Theseus an Pirithous während der calydonischen Jagd: licet eminus esse fortibus, ein Wort, das verdächtig an Shakespeares Sir John Falstaff und seine Vorsicht als den besseren Teil der Tapferkeit erinnert. (Vor 50 Jahren hieß das mit Galgenhumor und weniger poetisch, aber ebenso aktuell: Im Krieg und im Kino sind die besten Plätze hinten). Hier kann man nämlich, ich weiß nicht, ob es geschehen ist, wiederum einen Affront gegen Augustus mithören, den man übrigens vor kurzem auch mit dem Theseus in dem Giebelschmuck des Apollo-Sosianus-Tempels beim Marcellus-Theater in Rom identifiziert hat. Denn mit Hilfe eben dieser Theseus-Worte und entsprechender Vorsicht - so jedenfalls später M. Antonius (Suet. Aug. 16,4), - soll der damals 20jährige Divi filius, spätere Augustus, während der Schlacht bei Mutina i.J. 43 abhanden gekommen und erst nach zwei Tagen wieder auf der Bildfläche erschienen (post biduum demum apparuisse), offenbar also irgendwo ganz weit hinten gewesen sein, um ausgerechnet dann auch noch die Akklamation des siegreichen Imperators entgegenzunehmen. Verständlich also, wenn das so war, daß der Kaiser nicht gern daran erinnert werden wollte, und Ovid hätte das denn gleich zweimal getan, in den Fasten nämlich auch noch.

Es geht aber nicht nur um die Sprache in ihrer lapidaren Treffsicherheit, sondern mehr noch um den Stil als Ausdruck der Persönlichkeit, le style c'est l'homme: Ovid schließt seine Dichtung mit den Versen Iamque opus exegi, quod nec Iovis ira nec ignis nec poterit ferrum nec edax abolere vetustas ... nomenque erit indelebile nostrum ... Wer konnte so zu seinen Zeitgenossen sprechen, die ihren Horaz kannten, mit diesem Selbstbewußtsein? Seneca spricht einmal von einem poeta maximus - wir wissen nicht, wen er damit gemeint hat, es könnte Vergil sein (hier ist die Interpretation umstritten), bei Dante ist Vergil l'altissimo poeta, maximus ist er aber spätestens seit dem durch Nordens Zitat bekannt gewordenen Hymnus aus der St.Pauls-Messe zu Mantua[20], wo ihn die Sibylle mit poetarum maxime apostrophiert. Seneca nennt Ovid dagegen ille poeta ingeniosissimus; und noch ein, diesmal ein geradezu italienischer Superlativ: Für I.C. Newman ist Ovid Romanorum Alexandrinorum nescio an Alexandrinissimus («Latinitas» 13,1965,99).

Es war eingangs davon die Rede: Ovid ist nicht der Meister des heroischen Pathos, und man darf ihm soviel Augenmaß zutrauen, daß er wußte, daß es nescio quid maius nascitur Aeneide zu seiner Zeit nicht geben konnte. Und wenn er in seinen Metamorphosen in erster Linie Erzähler ist, so bewundern wir heute nicht nur seine Lust zu fabulieren, nicht nur, was er sagte und was ihm das besondere Interesse fast eines Jahrtausends eingetragen hat, sondern mindestens ebenso und heute vielleicht noch mehr, wie er es sagte, seine ars narrandi, die elegante Leichtigkeit, die Virtuosität seiner Sprache, die Luzidität und die Brillanz seiner Apercus. Ovid hat wie kein anderer seiner Zeit mit seiner Kunst des Erzählens aus einer ursprünglich sicher harten, dann imperialen, oft pathetischen, oft verehrungswürdigen eine auch liebenswerte Sprache geschaffen.

Aber nicht nur liebenswert - da darf ich, nach all diesen Bekannten, mit einem wohl weithin unbekannten norddeutschen Ovidianum schließen: Th. Storms Erzählung "Renate" (1876) spielt um 1705 in Schwabstedt, heute einem Dorf auf einem Geestrücken über der Treene, die bei Friedrichstadt in die Eider mündet, als Schwabstedt damals immerhin Residenz der Bischöfe von Schleswig war. Spricht da Herr Petrus Goldschmidt, Pastor zu Sterup, mit seinem Amtsbruder, dem pastor loci zu Schwabstedt, gelegentlich lateinisch, u.a. dies: Nitimur in vetitum, - im 19. Jahrhundert eines der "Geflügelten" Worte (außerdem bei A. von Droste-Hülshoff, "Bei uns zu Lande auf dem Lande", gegen Ende). Pastor Goldschmidt hat das sicherlich christlich gemeint, was ja auch nicht falsch wäre, etwa seit Eva im Paradies; aber es ist Ovid, ausgerechnet in den Amores (III 4,17; keine Angabe bei Storm). Das ist das eine. Und das andere: Der Amtsbruder zu Schwabsted - jetzt geht es nicht mehr um meinen Ovid, sondern um unser Latein - ich zitiere - "war der Ansicht Dr. Luthers ..., die lateinische Sprache habe viel feiner musica und Gesanges (als Genitivus partitivus ein schöner Latinismus) in sich, daher man sie keineswegs aus dem Gottesdienste solle wegkommen lassen". Und aus unserem deutschen Bildungswesen auch nicht.


[*]Anmerkung von Ulrich Schmitzer: Professor Bömer (Norderstedt bei Hamburg) hat den vorliegenden Text im November 1992 als Vortrag an der Universität Erlangen-Nürnberg gehalten. Ich habe das Vortragsmanuskript in HTML umgesetzt und die notwendigsten Literaturangaben hinzugefügt. Wer genauere Auskunft sucht, sei auf die Erträge von Bömers jahrzehntelanger Forschungstätigkeit zu Ovid, v.a. auf das opus maximum, den Metamorphosen-Kommentar, und auf die zahlreichen Beiträge und Rezensionen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift «Gymnasium» verwiesen.

[1] U. von Wilamowitz-Moellendorf, Hellenistische Dichtung I 1923,241.

 

[2] F. Bömer, «Gymnasium» 66,1959,285 = in: Ovid, Wege der Forschung 92,1968,198.

[3] W. Fauth, «ANRW»II.16.1 (1978) 167.

[4] H. Fränkel, Ovid. A poet between two worlds, 1945 = Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten, 1970.

[5] S. Lundström, Ovids Metamorphosen und die Politik des Kaisers, 1980, 47f.

[6] C. Ransmayr, Die letzte Welt, Roman, 1988.

[7] P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Kommentar von Franz Bömer. Heidelberg 1969 (Buch I-III), 1976 (IV-V), 1976 (VI-VII), 1977 (VIII-IX), 1980 (X-XI), 1982 (XII-XIII), 1986 (XIV-XV) (Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern)

[8] P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Erster Band: Buch I-VII erklärt von M. Haupt. 10. Auflage. Unveränderte Neuausgabe der neunten Auflage von R. Ehwald, korrigiert und bibliographisch ergänzt von M. von Albrecht. Zweiter Band: Buch VIII-XV, im Anschluß an M. Haupts Bearbeitung der Bücher I-VII erklärt von O. Korn. Fünfte Auflage. Unveränderte Neuauflage der vierten Auflage von R. Ehwald, korrigiert und bibliographisch ergänzt von M. von Albrecht. Zürich, Dublin 1966.

[9] J.M. Frécaut, L'esprit et l'humour chez Ovide, 1972.

[10] M. Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung, in: Poetik und Hermeneutik, hrsg. von H.R. Jauss, III 1968,41ff.

[11] H. Le Bonniec, in: Journées Ovidiennes, 1985, 152 mit Montaigne, Des Livres II 103.

[12] G. Rosati, «Maia» 28,1976,93,26.

[13] F. Altheim, Römische Religionsgeschichte II 1953,257.

[14] L.P. Wilkinson, Ovid recalled, 1955.

[15] B. Snell, Neun Tage Latein. Plaudereien, 61968.

[16] R. Heinze, Ovids elegische Erzählung, 1915, 10,2

[17] K. Gieseking, Die Rahmenerzählung in Ovids Metamorphosen, Diss. Tübingen 1965.

[18] J.M. Frécaut, «REL» 46,1968,247ff.; außerdem G. Rosati, Il racconto dentro il racconto. Funzioni metanarrative nelle "Metamorfosi" di Ovidio, in: Atti del Convegno internazionale "Letterature classiche e narratologia", Perugia 1981 (Materiali e contributi per la storia della narrativa greco-latina 3) 297ff.

[19] J.M. Frécaut, La part du grotesque dans quelques épisodes des Métamorphoses d'Ovide, in: Res sacrae. Hommages à H. Le Bonniec, 198ff. und in seinem bereits mehrfach zitiertem Buch, 273ff.

[20] E. Norden, Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee, 1924, 170.