VOM ESQUILIN NACH TRASTEVERE: HORAZ, SATIRE 1,9

Friedrich Torberg überliefert in seinen Erinnerungen an die versunkene Welt des intellektuellen Lebens im Prag und Wien der Zwischenkriegszeit folgende Begebenheit aus dem Milieu des Wiener Kaffeehauses:

Zumindest auf den ersten Blick liest sich Torbergs pointierte Schilderung wie der in nuce zusammengefaßte Inhalt der Satire 1,9 des Horaz Ibam forte Via Sacra ...[2], seiner - wie Eduard Fraenkel schreibt - "populärsten" Satire - jedoch mit einem bezeichnenden Unterschied: Polgar entzieht durch seine Antwort allen weiteren Gefährdungen von vornherein die Basis; offenbar hat er aus dem Schicksal des Horaz gelernt - ob bewußt (was ihm durchaus zuzutrauen wäre[3]) oder unbewußt, das bleibe dahingestellt. Horaz seinerseits hat für eine Erzählung fast gleichen Inhalts immerhin 78 Verse[4] benötigt. Das legt den Verdacht nahe, daß wir es, wenn schon nicht mit der "Schwätzersatire", so doch mit der Satire eines Geschwätzigen zu tun haben.
Doch daß die Satire 1,9 nicht nur eine anekdotische Begebenheit schildert, sondern vielmehr eine ernsthafte Aussage zum Ziel hat und daß sie dieses Ziel auch erreicht, das sollte mehr als ein Jahrzehnt nach dem überzeugendem Plädoyer durch Joachim Latacz[5] außer Frage stehen. Dessen Resumée sei den folgenden Betrachtungen als Ausgangspunkt und Basis vorangestellt:

Trotzdem ist der Text in all seinen Problemen keineswegs so erschöpfend geklärt, wie durch das seitherige Verstummen der Forschung der Anschein erweckt werden könnte. Um der Satire die deutlichen Konturen zurückzugeben, die ihr Horaz einst verliehen hat, bedarf es der Rekonstruktion des zeitgenössischen Verständnishorizonts, und zwar hinsichtlich sowohl der literarischen als auch der pragmatischen Dimension des Gedichts.
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Bereits die ersten Verse der Satire werfen eine Frage auf, die nur auf diesem Weg befriedigend zu erhellen ist. Torberg nämlich stellt in seiner Anekdote durch die Epitheta "klebrig" und "anbiedernd" für den Stammgast Weiß von vorn- herein klar, daß Polgar mit der schroffen Reaktion völlig im Recht ist. Bei Horaz dagegen läßt sich die vergleichbare Wendung der Dinge von Beginn an[7] keineswegs so klar voraus- sehen (1-8):

Es ist wohl der Bekanntheit der gesamten Satire zuzuschreiben, daß inhaltliche Anstöße gleichsam vom großen Mantel der Vertrautheit zugedeckt werden. So hat die Zurückweisung hart am Rande der offenen Unhöflichkeit[8] keine größere Verwunderung bei den Kommentatoren hervorgerufen. Gewiß, Horaz wird unsanft aus seinen Gedanken gerissen, aber er kann ja zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs ahnen, wie lästig der quidam werden wird. Denn der Dichter weiß von ihm nicht mehr als den Namen (notus mihi nomine tantum). Wir müssen also den Schlüssel für die Erklärung von Horazens Verhalten außerhalb des Gedichts suchen. Die Frage lautet: Hatten seine Leser schon Bewertungskriterien für eine solche Annäherung an die Hand bekommen?
Eine Antwort fällt nicht schwer, nimmt man das Satirenbuch als ein durchkomponiertes Ganzes:[9] Dann findet sich die Folie, vor der das Verhalten des quidam gelesen werden soll, in der Satire 1,6, besonders in den Versen 54-62, wo Horaz von seiner ersten Begegnung mit Maecenas berichtet:

Verfolgt man diese Verbindungslinie zwischen den beiden Satiren weiter, fällt auf, daß der quidam eine sich unverhofft ergebende Gelegenheit ergreift, den zufälligen[10] Gang (forte) des Horaz über die Via Sacra[11]. Die Bekanntschaft des Horaz mit Maecenas dagegen ist keineswegs ein Zufallsprodukt, wie die variierende Doppelung weder casus noch fors nachdrücklich unterstreicht (1,6,52ff.):

Damit sich diese Freundschaft überhaupt entwickeln konnte, war die Empfehlung durch zwei Männer nötig, auf deren Urteil und Loyalität Maecenas unbedingt vertrauen konnte (optimus ... Vergilius, post hunc Varius 1,6,54). Und trotz dieser Referenzen nahm sich Maecenas eine neunmonatige Bedenkzeit. Welch ein Kontrast dagegen zum ˙Uuberfall auf offener Straße, dem Horaz sich in der Satire 1,9 ungeschützt ausgesetzt sieht! Die Gunst des Augenblicks ergreifend, stürzt der flüchtige Bekannte auf Horaz zu, um ihn sogleich durch den einseitigen Händedruck und die Anrede dulcissime (rerum) wie einen intimen Freund zu behandeln. Das wäre vielleicht noch zu entschuldigen, denn Horaz ist ja noch keineswegs in einer dem Maecenas vergleichbaren Position, kann also auch nicht auf ergebene Mittelsmänner zurückgreifen. Verschärfend kommt aber die Impertinenz hinzu, mit der der Ungebetene sich selbst charakterisiert, als wäre nichts selbstverständlicher: noris nos, docti sumus (7) - durch den einzigen auf eine Einzelperson bezogenen Plural des Gedichts tritt die Aufgeblasenheit noch deutlicher hervor.
Es kann schon nach dieser Einleitung für den Leser kein Zweifel mehr bestehen, daß der quidam auf dem gewählten Weg eine engere Bekanntschaft, ja Freundschaft mit Horaz nicht erreichen wird. Doch jener mißversteht den Sinn der wortkargen Antwort des Horaz, mit der er sich die erwähnte Gewohnheit des Maecenas zu eigen gemacht hat: respondes, ut tuus est mos / pauca. Vielmehr gewährt er auch jetzt seinem Opfer nicht einen Moment der Ruhe, sondern heftet sich voll Penetranz an seine Fersen (adsectaretur als Intensivum zu assequi).[12] Um die peinliche Situation des stummen Nebeneinandergehens zu überspielen, beginnt er einen Redeschwall (12f.): cum quidlibet ille garriret, / vicos, urbem laudaret. Ein größerer Kontrast zum ersten Gespräch zwischen Horaz und Maecenas läßt sich kaum denken, denn damals drehte sich alles nur um ein einziges, dafür aber essentielles Thema (1,6,60): quod eram narro.
Nachdem der quidam in den Versen 14-19 hartnäckig alle Versuche des Horaz, seiner ledig zu werden, abgewehrt hat, wird er jetzt konkreter und entfaltet ausführlicher, wie seine spezielle Vorstellung von doctrina aussieht (21-25):

Die rhetorisch gemeinte kondizionale Umformung si bene me novi des delphischen Mottos GNW=QI SAUTO/N ist an sich schon für das Wesen des quidam entlarvend genug. Obendrein bemerkt er im Übereifer nicht, daß seine Begründung (nam) gegen das gleichfalls delphische MHDE\N A)/GAN[13] verstößt: Er entlarvt sich selbst mit dem Hinweis auf Tempo und Quantität der Produktion seiner "Versfabrik"[14] als künstlerischer Stümper.[15] Auch darüber könnte Horaz zur Not noch hinweggehen, würde doch damit dem völlig unakzeptablen Verhalten nur eine weitere Variante hinzugefügt. Aber das Gespräch erfährt dadurch eine neue und gefährliche Wendung, daß erstmals nicht nur implizit Werte des Maecenaskreises zur Disposition stehen, sondern mit Viscus und Varius zwei seiner Mitglieder namentlich genannt werden.[16]
Deshalb geht Horaz zur Gegenoffensive über: interpellandi locus hic erat (26).[17] Doch auch der in Frageform gekleidete Hinweis, der quidam solle sich um seine eigenen Angehörigen und Angelegenheiten kümmern, wird nicht von Erfolg gekrönt. Da nun erinnert sich Horaz auf der höchsten Stufe komischer Verzweiflung an die ihm einst zuteilgewordene Weissagung einer anus Sabella[18].
Mit deren Warnung vor allzu Redseligen, die sprachlich als Eposparodie gestaltet ist, und der anschließenden Nennung des Vesta-Tempels in Vers 35 als wichtige strukturelle Markierung ist der erste Teil des Gedichts abgeschlos- sen: die vergeblichen Versuche, den lästigen Begleiter loszuwerden.[19] Allerdings kann man nicht mit Latacz erst hier von einem "Einbruch der Außenwelt in die Zweierbeziehung" sprechen, denn die römische Realität muß für einen zeitgenössischen Leser von Anfang an als Hintergrund immer präsent gewesen sein.
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Der nun folgende Hauptteil bietet dem Vorherigen gegenüber deutlich weniger Verständnisschwierigkeiten - ich greife deshalb hier nur einen Aspekt heraus. Im Kontrast zu bisherigen Deutungen ist nämlich darauf zu bestehen, daß sich das Gespräch keineswegs überraschend den Werten und der Lebensweise des Maecenaskreises zuwendet und das auch nicht erst durch die Erwähnung von Vergil und Viscus (22) vorbereitet wird, sondern daß sich dies organisch aus dem inneren Verlauf des Gedichts vom ersten Vers an ergibt.
Den lästigen Begleiter des Horaz kann nicht einmal die unmittelbare Gefahr, seinen anstehenden Prozeß durch schuldhaftes Versäumnis zu verlieren, davon abhalten, nun unverblümt auf das Ziel loszusteuern (43-48). Er bietet Horaz seine Hilfe an, alle anderen Konkurrenten um die Gunst des Maecenas beiseite zu drängen. Er selbst fordere für sich zum Dank nicht mehr als eine dem Horaz, seinem Gönner, nachgeordnete Rolle. Einen so direkten Angriff kann Horaz nicht anders parieren als durch eine grundsätzliche Darstellung der um Maecenas geltenden Maßstäbe, die ganz und gar "unsatirisch" wirkt, durch das Hohelied einer nur auf inneren Werten beruhenden Freundschaft (48-52):

Doch selbst jetzt noch mißversteht der ungebetene Bewerber Horaz vollkommen und glaubt, durch Potenzierung der bisher aufgewendeten Mühen am Ende noch zum Ziel kommen zu können (53f.): accendis, quare cupiam magis illi proxumus esse. Nun bleibt Horaz kein anderes Mittel mehr als beißender Sarkasmus: Angesichts der Qualität von dessen virtus werde die Mühe ganz gewiß von Erfolg gekrönt werden.
Mit der Antwort des quidam, an seinen Bemühungen solle es nicht fehlen, endet der Mittelteil des Gedichts: Das Ziel des Fragers sowie dessen völlig verquere Vorstellungen von der Realität des Maecenaskreises ist nun in aller Deutlichkeit offengelegt, der Angriff aber keineswegs abgeschlagen. Denn angesichts der nachgerade aufgesetzt wirkenden Begriffsstutzigkeit des Bewerbers von eigenen Gnaden ist mit einer Wiederholung bei nächster sich bietender Gelegenheit zu rechnen - sei es bei Horaz, sei es bei einem anderen aus dem Maecenaskreis.
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Vor dem Blick auf den Schluß des Gedichts, auf die glückliche Rettung des Horaz, ist zunächst die ˙Uuberlegung angebracht, was sich der quidam von der heiß ersehnten Aufnahme bei Maecenas verspricht. Da er sich darüber nicht ausdrücklich äußert, muß dies aus den Mitteln, die er zur Anwendung bringen will, erschlossen werden. Es handelt sich nämlich um die für einen römischen Politiker nötigen Tugenden und Fähigkeiten: Hartnäckigkeit[20], Protektion, Intrigen, Bestechung und Konkurrenzkampf[21] (56-60):

Wenn auch nur im geringsten eine Korrelation zwischen Mittel und Zweck besteht, kann es dem quidam um nichts anderes als eine politische Karriere gehen.[22] Für eine solche Absicht läßt sich natürlich kaum ein Geeigneterer finden als Maecenas, der enge Vertraute Octavians, dem schon Mitte der 30er Jahre die politische Zukunft zu gehören schien.
Die Vermutung, der Maecenaskreis sei in Wahrheit in erster Linie ein Sprung- brett für politische Karrieren, muß gerade in der Anfangszeit seiner Existenz für Außenstehende nahegelegen haben. Wohl nicht zuletzt aufgrund solcher Mißverständnisse hat Horaz immer wieder Wert darauf gelegt, den Maecenaskreis als eine von der Politik ganz und gar abgewandte Vereinigung darzustellen.
Das zeigt sich z.B. im iter Brundisinum (sat. 1,5), wo der hochpolitis- che Zweck der Reise mehr angedeutet als wirklich erwähnt wird. Noch deutlicher wird Horaz in der darauf folgenden (schon mehrfach zitierten) Satire 1,6, wo er die Werte der Politik ausdrücklich von den Auswahlkriterien des Maecenas scheidet, vor allem in den bekannten Versen 45-52: Früher habe man ihm, dem Sohn eines Freigelassenen, das Militärtribunat geneidet, jetzt die enge Freundschaft mit Maecenas, letztere ganz gewiß zu Unrecht, denn Maecenas achte ganz besonders darauf, Würdige an sich zu ziehen, fernab von verwerflichem Ehrgeiz (praesertim cautum dignos adsumere, prava / ambitione procul).
Diese Gedanken finden sich auch in der erwähnten zentralen Passage 1,9,48-52 wieder - bezeichnenderweise nicht in satirischer Verfremdung, sondern zur Vermeidung jeglichen Mißverständnisses in unverklausuliertem Klartext. Und es scheint, daß sich der quidam nicht so sehr wegen seiner ursprünglichen falschen Vorstellungen disqualifiziert, als vielmehr wegen der Penetranz, mit der er an ihnen festhält.
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Nehmen wir damit den Faden der chronologischen Betrachtung unserer Satire wieder auf: Horaz ist also mit seinen Befreiungsversuchen auf der ganzen Linie gescheitert. Da scheint die Rettung aus der mißlichen Lage in Gestalt des Aristius Fuscus[23] zu nahen, der als einer der engsten Vertrauten des Horaz für eine solche heilsbringende Tat geradezu prädestiniert ist. Doch welche Enttäuschung, der male salsus erkennt zwar die Pein seines Freundes nur zu gut, schützt aber ridens religiöse Bedenken vor, die ihn an einer Hilfsaktion hindern (68-72):

Seine Gründe sind so fadenscheinig, daß die von Horaz für ihn gewählte Apostrophierung improbus geradezu noch schmeichelhaft wirkt. Wie kommt aber Aristius Fuscus dazu, gerade einen jüdischen Brauch[24] als Vorwand zu benützen? Einen Brauch übrigens, der so wenig präzise beschrieben wird, daß seine Identifizierung im Rahmen des jüdischen religiösen Lebens den Religionshistorikern bis heute nicht gelungen ist. Gewiß, die Juden galten als besonders abergläubisch[25], und auch Horaz hat das aufgespießt mit dem Dictum credat Iudaeus Apella (sat. 1,5,100). Doch eine Erklärung, deren Vorzug darin besteht, daß sie die externen Anknüpfungspunkte in den strukturellen Rahmen des Gedichts einpaßt, ergibt sich erst, wenn man die römische Topographie in die Erwägungen ein- bezieht (siehe den beigefügten Plan).
Das letzte Indiz für eine solche Erläuterung war der Vesta-Tempel. Dem römischen Leser, dem die Gegend um das Forum Romanum aus alltäglicher Erfahrung vertraut ist, wird damit zweifelsfrei der Punkt mitgeteilt, an dem der Weg des Horaz von der Via Sacra abbiegt. Dabei ist es nicht relevant, ob der Krankenbesuch tatsächlich geplant oder ad hoc erfunden worden ist, denn solange Horaz seinen Begleiter nicht abgeschüttelt hat, muß er an seinem Ziel festhalten, den horti Caesaris im Bereich der heutigen Porta Portese am Südwestrand von Trastevere. Dorthin sind grundsätzlich zwei Routen denkbar. Die eine führt durch den Vicus Iugarius am Fuß des Kapitols entlang über das Forum Holitorium und die Tiberinsel zur Via Campana, die andere durch den Vicus Tuscus und das Velabrum. Diese zweite Variante zweigt hinter dem Vesta-Tempel und noch vor der Basilica Iulia von der Via Sacra ab, und zwar unterhalb der Nordostecke des Palatins.[26] Zur Zeit unserer Satire war der ganze Ostteil des Forums von Baumaßnahmen für die Aedes Divi Iulii geprägt. Im Zuge dieser Umgestaltungen erhielt auch die Via Sacra einen neuen Zweig an der Nordseite der Regia und am neuen Caesartempel vorbei, wo sie auf den freien Platz des Forums trat, dann im rechten Winkel abknickte und auf die alte Trasse zulief.[27] Für die ˙Uuberquerung des Forums in Richtung auf den Vicus Iugarius - also die erste Variante - wäre das die kürzeste Route gewesen. Doch der von Horaz genannte Vesta-Tempel liegt an der alten Führung der Via Sacra, so daß allein schon dessen Erwähnung ein Indiz für den tatsächlich eingeschlagenen Weg bildet.
Horaz stellt weiter ausdrücklich fest, daß sein Kontrahent diese Wahl trifft (42f.): et praecedere coepit. ego, ut contendere durum / cum victore, sequor. Einen kurzen Moment lang ist Horaz also in der Rolle eines beim Triumphzug mitgeschleppten besiegten Feindes, zumal auch der triumphus seinen Weg auf der alten Trasse der Via Sacra nahm.[28] Eventuell stand zur Zeit unserer Satire sogar schon das Siegesmonument, das Augustus zum Andenken an den Erfolg über Sex. Pompeius an der Südseite des Caesar-Tempels errichten ließ und das dann von den beiden Weggefährten durchschritten worden wäre. Doch verliert sich diese punktuelle, aber erhellende Assoziation schnell wieder, da sich nun der Weg von der Route des Triumphzugs weg nach Südwesten in den Vicus Tuscus wendet. Für seine Entscheidung hat der quidam einen guten Grund, passiert er auf diese Weise doch die Basilica Iulia an ihrer am schwersten zugänglichen Seite im Osten, wo anders als an der Westseite und der zum Forum hin offenen Längsseite der Eingang nur über zehn bis zwölf Stufen zu erreichen ist.[29] So glaubt er wohl, der Gefahr aus dem Weg gehen zu können, seinem Prozeßgegner an einer der üblichen Gerichtsstätten Roms in die Arme zu laufen.[30]
Der Weg führt nun durch den Vicus Tuscus zum Velabrum und Forum Boarium.[31] Irgendwo auf diesem Weg sind die beiden unfreiwilligen Gefährten mit Aristius Fuscus zusammengetroffen, der aus der entgegengesetzten Richtung gekommen ist, wie Horaz betont (oc- curit 61, im Gegensatz zu ac-curit 2). Aristius Fuscus ist also aus dem Viertel trans Tiberim (Trastevere) unterwegs, der in der Antike wichtigsten, in republikanischer und augusteischer Zeit sogar einzigen Wohngegend der zahlreichen Juden in Rom, die sich wiederum besonders um den Tiberübergang konzentrierten.[32] So erklärt sich der Witz des treulosen Freundes nicht zuletzt aus der von der Topographie bestimmten Pointe: Noch in Sichtweite der Juden, eventuell sogar unter dem frischen Eindruck von deren Sabbatritualen[33], will er nicht gegen deren merkwürdige Bräuche verstoßen.
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An all dem läßt sich ein weiterer wesentlicher Unterschied zur eingangs zitierten Anekdote demonstrieren: Ob Alfred Polgar von seinem Wiener Kaffeehaus zum Stephansdom, zum Burgtheater oder nach Grinzing zum Heurigen unterwegs ist, bleibt für die Pointe der Anekdote ohne Belang, eine ausführlichere Erwähnung würde deren Effekt durch den Verlust an Prägnanz sogar schaden. Horaz dagegen verankert seine Satire fest im zeitgenössischen römischen Ambiente und kann dessen Kenntnis für das Verständnis vorausset- zen.
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Wenn nun in Bekräftigung und Ergänzung der Ergebnisse von Latacz gezeigt wer- den konnte, wie sorgfältig die Satire komponiert und in den Rahmen der literarischen, historischen und topographischen Umstände eingepaßt ist, muß doch der so abrupt wirkende Schluß deutliche Überraschung hervorrufen (74- 78):

Die effektvolle Komposition erinnert an das Finale eines Werkes der Musik, etwa einer Beethoven-Symphonie wie der Eroica: Auf eine deutliche Steigerung des Tempos gegen den Schluß hin durch Parataxe, Asyndeta und schließlich Ellipse der Prädikate folgen[34] die vier mächtigen Schlußakkorde sic me servavit Apollo. Für die inhaltliche Deutung hat man sich bislang meist ohne weitere ˙Uuberlegungen[35] mit der von Porphyrio herrührenden Erklärung begnügt, Horaz übersetze eine bereits von Lucilius griechisch zitierte Wendung aus der Ilias (Y [20] 443: ut discrepet ac TO\N D' E)XH/RPAZEN A)PO/LLWN fiat frg. 238f. Kr. - "daß es sich in nichts unterscheide und ein Fall von `ihn entraffte [TO\N D' E)XH/RPAZEN A)PO/LLWN] Apollo' wird"[36]). Wie einst den Hektor vor Achilleus, so entraffe Apollo, der Dichtergott, nun seinen Schützling, womit gleichzeitig ein letztes Mal das Mittel der Eposparodie zur Geltung komme.[37] Das soll keineswegs bestritten werden, ist aber dringend ergänzungsbedürftig:
Erstens scheint Horaz nicht exakt dieselbe Homerstelle vor Augen zu haben wie Lucilius, denn seine Junktur rekurriert eher auf eine andere Passage desselben Iliasbuches Y: Dort steht in Vers 450, also 7 Verse nach der von Lucilius zitierten Stelle, der auf Hektor gemünzte Ausruf Achills NY=N AU=)TE S' E)RU/SATO FOI=BOS A)PO/LLWN - "jetzt rettete dich wieder Phoibos Apollon". Horaz variiert damit seine Vorlage Lucilius und paßt sie zugleich genauer seinen Bedürfnissen an, denn nicht das "entraffen", sondern das "retten" (E)RU/OMAI - servare[38]) ist im vorliegenden Kontext entscheidend, eine stilistische Feinheit, die dem spätantiken Kommentator und seinen Nachfolgern entgangen ist. Wichtiger aber ist die zweite Differenz: Weder bei Homer noch bei Lucilius sind die Worte an so exponierter Stelle zu finden wie in der Schlußpointe bei Horaz. Darüber hinaus fällt der Name Apollos hier zum ersten Mal in den Satiren überhaupt.[39] Wenn also primär Apollos Funktion als Dichtergott gemeint sein sollte[40], hätte Horaz das in keiner Weise vorbereitet.[41]
So sei nun abschließend eine topographische Lösungsmöglichkeit dieser interpretatorischen Crux vorgeschlagen: Der von Horaz und dem quidam einges- chlagene Vicus Tuscus führt über das Velabrum und das Forum Boarium zum Tiber, und wohl am Palatin entlang und vorbei an der Ara Maxima Herculis und am Nordost-Ende des Circus Maximus[42] zum Pons Sublicius[43]. Das ist der kürzeste Weg zur Porta Portuensis in Trastevere und damit zu den Horti Caesaris. Daß Horaz tatsächlich diesen Weg meint, dafür gibt es ein wichtiges Indiz. Denn war man um das Jahr 35 v. Chr. etwa in die Gegend der Ara Maxima gelangt, gaben die zurücktretenden Ausläufer des Palatins den Blick frei auf eine Baustelle, die zu dieser Zeit die wohl bekannteste Roms und zugleich für die ideologisch-religiöse Selbstdarstellung des Octavian wichtigste war, auf den im Entstehen begriffenen Tempel des Apollo Palatinus.[44] Octavian hatte den Bau nach der Schlacht von Naulochos am 3. September 36 gelobt und noch im selben Jahr begonnen.[45] Er hatte auch allen Grund, seinem Schutzgott Apollo Dank abzustatten. Denn sein Admiral Agrippa hatte bei Naulochos im Angesicht des dortigen Tempels der Diana, der Schwester Apollos, den entscheidenden Sieg über Sex. Pompeius errungen und damit eine der größten Gefährdungen von Octavians Macht beseitigt.[46]
Darüber hinaus existiert ein noch wesentlich persönlicheres Motiv. Als Octavian vor der Entscheidungsschlacht Truppen vom italischen Festland nach Sizilien übersetzen wollte, geriet er bei der zwar schon lange verfallenen, aber immer noch als topographische Markierung dienenden sizilischen Stadt Naxos in einen Hinterhalt des Sex. Pompeius. Daraus konnte er nur mit knapper Not entkommen - sein Schiff wurde wahrscheinlich sogar gekapert.[47] Die Lage schien so verzweifelt, daß er daran dachte, sich von seinem Sklaven töten zu lassen, bevor er schließlich mit knapper Not entkam.[48] Diese dramatischen Ereignisse - Todesgefahr und Rettung - spielten sich ab just unterhalb des Heiligtums für den Apollon Archegetes, den "Gott von NAxos", wie ihn Appian bezeichnet (App. civ. 5,454-466)[49], - ja den Zeit- genossen erschien die Rettung nur als durch göttliche Hilfe geschehen begreiflich, so nochmals Appian: QEO\S E)S TO\N A)BA/LAN LIME/NA PARH/NEGKE MEQ' E(NO\S O(PLOFO/ROU (a.O. 466: "ein Gott aber führte ihn, nur von einem einzigen Waffenträger begleitet ... in den Hafen von Abalas").
Nur etwa ein Jahr darauf veröffentlichte Horaz sein erstes Satirenbuch: Die Schlußpointe von sat. 1,9 kann also gar nicht anders als auf, wenigstens: auch auf diesen aktuellen Anlaß bezogen werden: Wie Octavian unterhalb des Apollo-Heiligtums von Naxos aus Todesgefahr gerettet wurde und für die sizilischen Ereignisse den palatinischen Apollo-Tempel gelobte, so wurde Horaz in Sichtweite dieses Tempels von Apollo ebenfalls vor der Todesgefahr bewahrt (denn daß sich Horaz in Todesgefahr befunden hatte, geht aus dem Orakel der anus Sabella hervor). Jedes Wort des Schlußsatzes trägt nach dieser Deutung einen eigenen Akzent: sic (ebenso überraschend wie bei Naxos) me (statt Octavian) servavit (der Gott ist wieder als SWQH\R tätig) Apollo (Octavians Schutzgott - die aktuelle Pointe ist bis zum letzten Wort aufgespart).
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Fassen wir das Ergebnis unserer Interpretation zusammen: Die Rekonstruktion des zeitgenössischen Verständnishorizonts hat gezeigt, wie wichtig die Kenntnis der im Maecenaskreis gepflegten Werte, des literarischen Hintergrunds, wie auch der römischen Topographie[50] Mitte der dreißiger Jahre für die richtige Deutung der Satire 1,9 ist.[51] Als Vetreterin eines urbanen genus, und die Satire ist die römische Literaturform par excellence[52], wendet sie sich an die Bewohner der urbs Roma und dabei wieder zunächst an die engere Umgebung des Horaz. In diesem Sinn läßt sie sich nach dem Urteil von Latacz als das "sublimste Huldigungsgedicht" des Horaz für Maecenas begreifen, was der Schluß auf eine so überraschende wie witzige Spitze treibt: Wenn Horaz von seinen Freunden verlassen wird (Aristius Fuscus steht lediglich pars pro toto), dann kann ihn nur noch ein deus ex machina retten.[53] Und welcher Gott wäre dafür besser geeignet als der von Octavian durch den Bau des palatinischen Tempels als SWQH/R geradezu institutionalisierte Apollo?