Ulrich Schmitzer: Velleius Paterculus

geb. um 20/19 v. Chr.; gest. nach 31 n. Chr.

Ein Autor, dessen Latein dem Caesars gleichkomme, dessen historischer Wert den der Germania des Tacitus erreiche: so pries der Humanist Beatus Rhenanus 1520 seine Trouvaille aus dem Kloster Murbach. Die "Art und Unart eines mittelmäßigen Journalisten" (F. Münzer), das erste Propagandawerk der Weltliteratur (I. Lana): so schalt man im 20. Jahrhundert, eine Einschätzung, die V. zu einer Existenz als Füllmaterial für Fußnoten in historisch-philologischer Resteverwertung degradierte, auch wenn ihn die Forschung neuerdings mehr Gerechtigkeit angedeihen läßt: Obwohl V. lange als Offizier tätig war, war er keineswegs ein sturer "Kommißkopf", sondern in seiner militärischen und zivilen Karriere (14 n. Chr. Praetor), die er dem Tiberius verdankte, bewahrte er sich historische und kulturelle Interessen. Diese manifestierten sich nach dem Rückzug ins Privatleben in der Publikation eines zweibändigen Geschichtswerks (30 n. Chr.), das er dem Konsul dieses Jahres, M. Vinicius, widmete.
V.s Werk, von Beatus Rhenanus irreführend als Historia Romana betitelt, ist das einzige erhaltene, wenn auch durch Textausfall im 1. Buch stark beeinträchtigte Zeugnis für kompakte Universalgeschichte, wie sie in dieser Zeit in Mode gekommen war. Vom Untergang Troias an schildert V. den Gang der Weltgeschichte zunächst nach dem Konzept der translatio imperii als Herrschaftsübertragung vom Orient über Griechenland nach Rom. Der Auftakt erweist (über die mitgeteilten Einzelheiten hinaus) paradigmatisch den Quellenwert V.s für die Kenntnis der geistigen Verfaßtheit seiner Zeit. Denn er verweigert sich einer bloßen Reprise des augusteischen Staatsmythos von Aeneas und der Rolle der gens Iulia als Leitstern der römischen Geschichte bis hin zu Augustus: Dessen Nachfolger Tiberius war Claudier, nur durch Adoption Iulier und wahrte zeitlebens Distanz zu ihrer Ideologie. So fällt der Name "Aeneas" kein einziges Mal, die mythische Legitimation der gens Iulia bleibt unbeachtet.
Die anfangs sehr knappe Darstellung wird mit dem Beginn des 2. Buches, ab dem Fall Karthagos, zur Gegenwart V.s hin immer breiter und konzentriert sich ganz auf die römische Geschichte, wobei sich das biographische Prinzip als Struktur durchsetzt. Bemerkenswert ist die Zurückhaltung gegenüber Caesar und Augustus, während Cicero vorbehaltlos gepriesen wird: der erste Vorbote der Cicero-Renaissance in der Kaiserzeit. Ausführlich schildert V. die militärischen Erfolge, die von Tiberius selbst oder unter seiner Verantwortung in Germanien und im Donauraum erzielt wurden; das düstere Gegenbild ist die Katastrophe im Teutoburger Wald, die V. allein dem persönlichen Versagen des Varus zuschreibt. Das zeigt die bei V. (wie auch sonst in der Antike) herrschende Tendenz, historische Ereignisse zu personalisieren und zu moralisieren, ohne ein Auge für tiefere Strukturen zu haben. Am Ende steigert das Werk in ein Gebet für Tiberius, womit V. die Gattungsgrenzen der Historiographie überschreitet und sich in seiner Herrscherpanegyrik den literarischen Techiken der Dichtung annähert, was schon das ganze Werk hindurch latent angelegt ist. Mit dieser loyalen Perspektive wird er auch zum Korrektiv für das bei Tacitus u.a. vorzufindende düstere Tiberiusbild.
Ein Unicum in der antiken Geschichtsschreibung sind die literarhistorischen Exkurse, die den Gang der historischen Darstellung strukturieren und implizit kommentieren. V. gibt darin einen Abriß der Literaturgeschichte von Homer bis Ovid. So ist durch Wertungen und Gewichtungen ein unschätzbares Dokument für den Geschmack der frühen Prinzipatszeit entstanden, das den Prozeß der Kanonbildung auf dem Weg hin zu Quintilian illustriert.

Ed.: Velleius Paterculus: Ad M. Vinicium consulem libri duo. Curavit adnotavitque M. Elefante. Hildesheim, Zürich, New York 1997 (mit Einführung und Kommentar). - Übers.: Velleius Paterculus.: Römische Geschichte. Historia Romana. Übers. u. hrsg. v. M. Giebel. Stuttgart 1988. - Lit.: U. Schmitzer: Velleius Paterculus und das Interesse an Geschichte im Zeitalter des Tiberius (demnächst).


erscheint im Metzler Lexikon antiker Autoren (Herbst 1997)


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