Ovids Liebesbüchlein: Der Besuch
 
Der Besuch
 
Es war ein schöner Sommernachmittag,
Da ich ermüdet auf dem Polster lag,
Die Glieder ausgestreckt. Das Fenster war
Geöffnet halb. Der Himmel blickte klar.
Kurz eine echte, rechte Dämmerstunde,
So lauschig, wie wenn in dem Waldesgrunde
Der Baum mit seinen Zweigen sich beschattet,
Wie wenn die Nacht sich mit dem Tage gattet.
Kein Laut allüberall? Auf leisen Sohlen
Sucht ein Versteck die Liebe sich verstohlen.
Da rauscht ein Tritt. - Corinna steht vor mir,
Das Röckchen aufgegürtet, an der Thür.
Das Haar ist losgebunden und umstreicht
Den weißen Nacken ihr. So trat vielleicht
Semiramis, die schöne Königin -
Ins Ehgemach vor ihren Buhlen hin. -
Ich fahre auf vorstreckend meine Hand
Und will sie fassen an dem Hausgewand
Und ihre holde Keuschheit harmlos necken,
Sie aber wehrt sich wild, bis sie mit Schrecken
Sie könnte siegen, denkt, und noch erschreckt
Verräterisch die kleinen Waffen streckt.
Und vor mir steht sie willenlos, bezwungen,
Ihr Aug' gesenkt, von meinem fast verschlungen.
Beim Himmel, welch' vollendet lieblich Weib!
Wie stolz das Köpfchen und wie weiß der Leib!
Der Busen, wie geschwellt von süßer Lust;
Man möcht' ihn pressen an die eigne Brust!
Was sag' ich noch? Nur still! Des Weibes Wesen
Ist ja ein Rätsel; mag's ein andrer lösen.
Wir ruhten Herz an Herz und Mund an Munde,
Ach, würde oft mir solche Dämmerstunde!
 
 
zurück zur Hauptseite des Liebesbüchleins zurück zur Ovid-Homepage