Ovids Liebesbüchlein: Ein Traum
 
Ein Traum
 
Und es ward Nacht. In einen Traum verlor
Mein Sinnen sich. Ich stand auf sonn'ger Halde,
Und unter mir scholl aus dem Eichenwalde
Der kleinen Vöglein tausendfält'ger Chor.
 
Es war sehr heiß; selbst aus der Tiefe drang
Ein warmer Atem auf. Ich sah hinunter.
Dort eine weiße Kuh, die graste munter;
Weiß war sie wie der Schnee am Bergeshang.
 
Und plötzlich - weiß nicht wie - ward ihr gesellt
Ein Stier, der sich in ihre Nähe streckte
Und wiederkäuend ihr die Füße leckte,
Behaglich sanft und dennoch kraftgeschwellt.
 
Nicht lange währte es. Mit einmal fuhr
Der Stier ins Gras und schloß die Augenlider,
Und tiefer Schlaf umstrickte seine Glieder,
Und für ihn zeugten seine - Hörner nur.
 
Vom Himmel her schoß nieder eine Kräh',
Die flugs der Kuh die weiße Brust zerhackte
Und einen Büschel heller Haare packte,
Und damit krächzend fortflog in die Höh.
 
Die Kuh stand zögernd. Schwarz war jetzt die Brust;
Da ließ sie ihren Stier und ihre Weide.
Und als er aufschloß seine Augen beide,
War er allein, sein selber kaum bewußt.
 
Es war ein Traum. Die Deutung ist mir klar:
Die Hitze läßt auf Liebesfeuer schließen,
Ich bin der Stier, der jener lag zu Füßen,
Die, eine Kuh, doch meine Liebste war.
 
Untreue heißt die Krähe, die bestahl
Die Brust, daß sie sich wandelt in der Farbe
Und schwarze Flecken zeigt und eine Narbe,
Und ich, der Thor! ich merk' es nicht einmal.
 
Wohl dem, der sich der Schande ledig macht!
Es ist vorbei; ich fühle es mit Schmerzen,
Wie mir das Blut erstarrt in meinem Herzen,
Ein Abgrund liegt vor mir - und es wird Nacht.
 
 
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