Resümiert man den von Ovids "Autobiographie" gewonnenen Eindruck, muß man feststellen, daß aus ihr allein keineswegs ein nur annähernd vollständiger Lebenslauf ihres Autors zu gewinnen ist. Trotzdem ist die Ankündigung eingelöst, der Nachwelt Auskunft zu geben, qui fuerim: Denn der Leser erhält von Ovid geschickt ein Bild davon vermittelt, wie er sich selbst einschätzt, welchen Anspruch er als Dichter erhebt und wie er zuletzt als vates Opfer der Willkür des Princeps wurde. Die biographischen Informationen sind nicht Selbstzweck, sondern stehen im Dienst dieser Intention. Deshalb stellt sich Ovid im ersten Abschnitt als harmlosen Amores-Dichter dar und demonstriert im zweiten und dritten mit Nachdruck, wie fern ihm jegliche Politik liegt. Seine Welt ist die der Dichter (vierter Abschnitt) und vor allem seiner Familie (fünfter Abschnitt: Ehen und Tochter; sechster: Eltern). Es muß völlig unbegreiflich bleiben, was Augustus zur überaus harten Maßnahme der Verbannung getrieben hat (siebter Abschnitt). Doch der eines Tyrannen würdige Gewaltakt kann nicht verhindern, daß die Muse Ovid dauerhaftes Überleben sichert und damit das durch Menschen zugefügte Unrecht wieder gutmacht. Doch wie die Interpretation durch Rekonstruktion des zeitgenössischen Verstehenshorizonts[1] zeigt, rechnet Ovid damit, daß die kundigen Leser[2], die studiosa pectora (91f.), die Stilisierung[3] durchschauen: Die fassungslose Klage über das eigene Schicksal wird zur scharfen Polemik gegen Augustus.
Die Analyse der poetischen Technik darf nicht vergessen lassen, daß Ovid gewiß fest überzeugt ist, ihm sei durch die Härte Zusammenfassung und Auswertungder Strafe, wenn nicht durch die Strafe selbst, bitterstes Unrecht widerfahren, und daß er ebenso gewiß schwer unter seinem Schicksal litt. Aber in künstlerischen Angelegenheiten ist das Gegenteil von "gut" nicht "schlecht", sondern "gut gemeint"[4]. Nichts wäre für das Publikum langweiliger und für Ovids unmittelbare Absicht und künftigen Ruhm schädlicher als bloße "Betroffenheitsliteratur".
Diese literarische Dimension von trist. 4,10 legitimiert die Behandlung im Unterricht. Denn könnte man daran nicht mehr lernen, als ohnehin im Vorspann jeder Schulausgabe steht, wäre das nur ein unnötiger Zeitverlust auf dem Weg zu den Metamorphosen. So ergeben sich im Überblick und nach dem Grad der Abstraktion angeordnet folgende Schwerpunkte der Arbeit:
1. Vor jeder inhaltlichen Auswertung muß die sprachliche Bewältigung des Textes stehen. Das ist hier besonders notwendig, da es sich um die erste Begegnung mit antiker Dichtung handelt und sich schon daraus bedeutende Schwierigkeiten ergeben. Zudem treten in trist. 4,10 die spezifischen Probleme der Dichtungslektüre konzentriert auf, besonders die freie Wortstellung sowie die Variation und Umschreibung wichtiger Begriffe. Es gibt dafür zwar meist inhaltliche oder stilistische Gründe[5], doch mindert das die sprachlichen Hürden nicht. Wenn aber die Schüler die Gestaltung des Textes nicht durchblicken, sind sie zu adäquater Übersetzung nicht fähig, statt dessen bleibt es aus Verzweiflung[6] bei disiecti membra poetae.
Um diesen gravierenden Einwand gegen trist. 4,10 als Einführung in Ovid zu entkräften, ist eingehende, eher übergenaue Besprechung des Textes[7] nötig. Der Schüler darf (auch für die häuslichen Präparation) nicht alleingelassen werden. Es bietet sich an (in Verbindung mit der metrischen Analyse), Kopien auf Overheadfolie[8] zu verwenden: So werden Zusammenhänge nicht nur verbal, sondern auch optisch deutlich. Unterstützt wird das durch die Erläuterungen im Arbeitsheft, den gezielt eingesetzten Kursivdruck und die am Ende vorgelegte Übersetzung, die aufgrund der gemeinsamen Arbeit einen zusammenhängenden, lesbaren Text ergibt.
2. Sodann werden die biographischen Angaben herausgearbeitet und in das Arbeitsblatt eingetragen. Zusammen mit den Informationen über die anderen Werke und die Verbannung entsteht ein umfassendes Bild von Ovid: die "Einführung in Leben und Werk" im engsten Sinn.
3. Nun geht es um ein affektives Ziel, das Verständnis für Ovids Verhalten in den verschiedenen Situationen seines Lebens, beginnend mit der Lebenswahl in der Jugend, über die enge Beziehung zum Bruder und die pietas gegenüber den Eltern bis zur Bewältigung des Schicksals als Verbannter. 2. und 3. bilden notwendige Ergänzungen zueinander: die biographischen Fakten (2.), Ovids Einstellung dazu und die Wertung der Schüler.
4. Auf der letzten Stufe wird der Sinn der von Ovid verwendeten literarischen Techniken klar: die Leserlenkung und punktuell die Auseinandersetzung mit Augustus. Da vom Deutschunterricht[9] (um von modernen Fremdsprachen zu schweigen) kaum Hilfe zu erwarten ist, besteht die schwierige Aufgabe, das Literarische an Literatur zu erarbeiten, den Zugewinn gegenüber der nüchternen Aussage, sowohl was den Informationswert anbelangt als auch besonders den affektiven Gehalt. Immerhin läßt sich auf Caesar zurückgreifen, der ebenfalls seine Taten nicht der Öffentlichkeit objektiv darstellen, sondern in ein günstiges Licht rücken will. Nachvollziehbares[10], sorgfältiges Vorgehen ist also dringend geboten, um auf diesem Gebiet in Ovid, nämlich in Interpretationsfähigkeit und -bedürftigkeit antiker Literatur[11], einzuführen, statt dauerhaft abzuschrecken.
Insgesamt dürfte sich gezeigt haben, daß mit trist. 4,10 bei Ovid ein Text vorliegt, der außerhalb der üblichen Metamorphosen-Lektüre für die erste Begegnung mit Ovid gut geeignet ist, ja ein umfassenderes Bild von ihm als Dichter und Mensch eröffnet, als bei der Beschränkung auf ein einziges Werk deutlich werden könnte.