5.3.2. Ausbildung und erste dichterische Versuche (15-26)

Der folgende Teil bietet die rare Chance, mit einem antiken Text direkt die Lebenswirklichkeit der Schüler anzusprechen: Ovid berichtet von seiner Ausbildung und den Problemen, die ihm die Gestaltung der Zukunft bereitete. Vor einer ähnlichen Situation stehen auch die ca. sechzehnjährigen Schüler, wenn sie mit der 10. Klasse die Mittlere Reife erreichen, was für nicht wenige die Frage nach dem weiteren Lebensweg akut werden läßt. Dem trägt die Schule z.B. durch das Angebot der Berufsberatung Rechnung und thematisiert so die Frage nach realistischen und utopischen Plänen. Der künftige bayerische Lehrplan[1] sieht für Deutsch in der 10. Klasse die Behandlung von Sachtexten zur beruflichen Orientierung vor (mit Hinweis auf die "Fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsaufgaben"), so daß sich Möglichkeiten zum Dialog zwischen den Schulfächern ergeben.
Ovid gönnt der Elementarbildung in Sulmo gemäß ihrem Wert nur einen halben Vers (protinus excolimur teneri[2]) und geht sofort zur höheren Bildung, die in *Rom stets rhetorische Bildung[3] war, über. Einblick in die Rednerschulen gewährt Fränkels Nacherzählung von Senecas Bericht (Arbeitsheft 6.2.) über eine Controversia Ovids vor Arellius Fuscus. Die Ausbildung verlief offenbar recht praxisfern, und es ist Ovid nicht zu verdenken, daß er sich statt für die juristischen Implikationen für den erotischen Kern des vorgelegten Themas interessierte: Die frühzeitige Bemühung um Amores ist kein vaticinium ex eventu.
Am Beispiel des Bruders stellt Ovid den üblichen Ausbildungsgang eines römischen Jugendlichen der Oberschicht dar und grenzt davon den eigenen Weg ab. Jener bemüht sich schon von klein auf - Ovid verwendet das der Natur entlehnte Bild viridi ab aevo[4] um die Rhetorik als Voraussetzung einer politischen Karriere, offenbar durch natürliche Anlagen dazu befähigt (natus): In Anlehnung an das tirocinium fori[5] spricht Ovid von den fortia arma[6], die dort nötig sind. Das scharfe at des folgenden Hexameters führt zu Ovids eigenem Streben, das er zunächst als caelestia sacra, eine Art von Gottesdienst, umschreibt. Das hat nichts mit einem herkömmlichen Priesteramt zu tun, womit er sich in Rom wieder in die Politik begeben würde. Denn der Pentameter schildert, wie die Musen[7] Ovid in ihr opus ziehen: Neigung und Berufung ergänzen sich in idealer Weise. In Antithese zum forum verbosum mit seiner Geschwätzigkeit geschieht diese Hinwendung in aller Heimlichkeit (furtim), also neben und auf Kosten der eigentlichen Ausbildung. Dennoch hört der Vater in Sulmo von der wahren Leidenschaft seines Sohnes und redet ihm ins Gewissen, von solch brotloser Kunst zu lassen: Nicht einmal der berühmte *Homer[8] habe es zu Reichtum[9] gebracht. An dieser Stelle lassen sich Erfahrungen der Schüler mit ähnlichen Konflikten im Elternhaus für eine freie Paraphrase der Stelle nützen, also die Alternative "Brot-" oder "Idealberuf" (z.B. Betriebswirtschafts-[10] vs. Archäologiestudium) - wenn sie sich denn so stellt - in die Gegenwart zu übersetzen: Es wird sich zeigen, daß Ovid seinen Vaters wohl abgeschwächt zitiert. Denn dieser hat bei den häufigen Mahnungen augenscheinlich so deutliche Worte gefunden, daß sich Ovid ohne Widerrede auf den Pfad equestrisch-bürgerlicher Tugend zurückholen läßt. Er will aufrichtig die Literatur zugunsten fachlicher Schriften beiseitelegen und verhält sich diametral verschieden zu Homer, wie das Polyptoton Maeonides nullos reliquit opes (22) - Helicone relicto (23) zeigt. Doch so leicht ist göttliche Inspiration nicht zu überlisten: Immer wieder (veniebat: Imperfekt für wiederholte Handlung) dreht ihm die Muse "gewissermassen das Wort im Munde herum"[11] - scribere temptabam wird zu temptabam scribere - und macht die Bemühungen ohne eigenes Zutun zu Dichtung. Das verdeutlicht den Unterschied der Lebensplanungen der Brüder: Während der eine sich in einem voluntaristischen Akt (tendebat) für die öffentliche Laufbahn entscheidet, führen Ovid höhere Mächte (Musa trahebat; sponte sua). Zwar wehrt er sich zunächst, da er dem Vater pietas schuldet[12], aber auf Dauer kann er sich seiner Bestimmung nicht entziehen.
Das Tafelbild zeigt, wie kunstvoll Ovid den Zwiespalt[13] gestaltet. Am Beginn steht das Bemühen des Vaters (cura parentis) um gediegene Ausbildung seiner Söhne. Ovids Bruder begibt sich gemäß dem Wunsch des Vaters in die Politik, während Ovid selbst seine Zeit mit Literatur verbringt. Nun schaltet sich der Vater erneut ein, um auch den zweiten Sohn auf den rechten Weg zu bringen. Das verlagert den Zwiespalt ins Innere Ovids. Er sieht zwar den vernünftigen Gang der Dinge ein, doch höhere, der ratio nicht zugängliche Mächte verhindern die Ausführung. So stehen zwei Lebenswege zur Auswahl, und wofür er sich endgültig entscheiden wird, bleibt noch in der Schwebe[14].


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