Didaktische Überlegungen

Daß ein Text bislang im Unterricht eine Nebenrolle spielt, rechtfertigt nicht, sich gleichsam aus purer Neugier daran zu versuchen. Das verbietet schon die prekäre Situation des Lektüreunterrichts in der Mittelstufe (bei L2 in aller Schärfe spürbar): Drei Wochenstunden erlauben keinen Zeitverlust. Anhand der vom Deutschen Altphilologenverband entwickelten "grobmaschige(n) Auswahlkriterien"[1] für die Lektüre in der Mittelstufe sei deshalb vorab umrissen, was trist. 4,10 zu den Lernzielen des Lateinunterrichts beitragen kann:

1. Die Texte müssen bedeutende Gegenstände des Faches sein, so daß sich eine Originallektüre lohnt (Aspekt des Faches).

trist. 4,10 zählt zu Ovids bekanntesten Gedichten aus der Verbannung. Man gewinnt daraus eine Reihe von Urteilen über ihren Verfasser (tenerorum lusor amorum; Sulmo mihi patria est[2]; quod scribere temptabam, versus erat[3] ...). Es lassen sich Erkenntnisse über zahlreiche biographische Fakten sowie über die Verbannungsfrage erzielen.

2. Die Texte müssen von den Schülern sprachlich bewältigt werden können und inhaltlich ihrer Altersstufe und ihren Interessen angemessen sein (Aspekt des Schülers).

Das Hauptproblem bei der ersten Lektüre dichterischer Texte ist für die an Prosa gewöhnten Schüler die sprachliche Form, besonders die inhaltlichen und stilistischen Kriterien gehorchende Wortstellung[4], die zu noch genauerer Beachtung der Kongruenz[5] zwingt als in Prosa. trist. 4,10 gehört nicht zu den einfachsten Texten lateinischer Poesie, so daß von daher am ehesten Einwände möglich sind, doch ist das durch die Gestaltung des Arbeitsmaterials und die Vorbesprechung durch den Lehrer aufzufangen.
Der inhaltliche Aspekt ist uneingeschränkt positiv zu bewerten, wenn man die unterschiedliche Intensität der Besprechung berücksichtigt (5.3.). Denn die antike Literatur bietet nur wenige so konkret die Lebenswirklichkeit der Schüler berührende Texte wie die Passagen über Ovids Jugend. Gerade die Frage nach Maßstäben für den eigenen Lebensweg[6] ist sowohl ein brennendes Problem der Schüler in diesem Alter als auch ein wichtiges Thema der Elegie.

3. Die Texte müssen in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht zu den Anforderungen der Oberstufe hinführen, als Prosa- und Dichtungstexte.

Zu den sprachlichen Anforderungen[7], die die Dichterlektüre gewiß genügend vorbereiten, siehe 2.! Beim Inhalt sind das Selbstverständnis römischer Dichter und speziell Ovids und die erste Bekanntschaft mit augusteischer Dichtung Legitimation genug, zumal trist. 4,10 nur der erste Teil der Ovid-Lektüre in den Klassen 10 und (bei L2) 11 ist.

4. Die für die Lektüre ausgewählten Autoren sollen als Persönlichkeiten der Geschichte, des Kultur- und Geisteslebens Gestalt gewinnen. Dabei spielt der Gesichtspunkt der Wirkung auf spätere geistige und kulturelle Entwicklungen wie auch der Wirkung auf den Schüler eine wichtige Rolle (Aspekt der kulturellen Bedeutung und Wirkungsgeschichte).

Die Forderungen lassen sich an trist. 4,10 idealtypisch erfüllen: Ovid gibt der posteritas Auskunft über sein Leben und Werk. Die Schüler werden damit authentisch über wesentliche Stationen seiner Biographie und vor allem darüber informiert, was er für sich selbst als charakteristisch ansieht. Diese Erkenntnisse vertieft die Interpretation, die zeigt, daß Ovid die Fakten für seine Intention (die Pose des viel zu hart Bestraften) auswählt. So wird die gerade für die augusteische Dichtung nötige genaue Lektüre und Interpretation einsichtig - und zwar vielen Schülern mehr als an fiktiven Texten, wo das wörtliche Verständnis übersteigende Ergebnisse oft als "überinterpretiert" abgetan werden. Ovids Lage als Verbannter dagegen macht die psychagogische Absicht von vornherein klar.
Auch für die Rezeptionsgeschichte[8] gibt es zahlreiche Ansatzpunkte. All dies wird im einzelnen im Kapitel 5 belegt werden. Zur Wirkung auf die Schüler vgl. 2.!

5. Probleme, die bei der Lektüre thematisiert werden, sollen bei den Schülern die Bereitschaft zu vertiefter Auseinandersetzung wecken (Aspekt der Persönlichkeitsbildung).

Prinzipiell sind affektive Lernziele kaum operationalisierbar, noch läßt sich der Grad des Erfolges auf eine ganze Klasse generalisieren. Ansatzpunkte liegen aber in folgenden Bereichen: 1. die Frage nach Kriterien für Lebens- und Berufswahl, die sich Ovid wie jedem heutigen Schülern stellt; 2. das Verhältnis von Geist und Macht, ob das nun Ovids Beziehung zu Augustus (und so die Verbannungsfrage) betrifft oder z.B. die Rolle von Schriftstellern bei den jüngsten Umgestaltungen in Osteuropa; 3. der Wert geistiger Beschäftigung für die Bewältigung schwieriger oder gar extremer Lebenssituationen anhand der Manifestation poetischen Selbstbewußtseins in der Schlußpassage; 4. der Stellenwert von Literatur im Leben des einzelnen; 5. endlich in der gesamten Elegie die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit.

Verbindliches Kriterium für die Entscheidung, ob ein grundsätzlich geeignet scheinendes Werk im Unterricht behandelt werden kann, ist der Lehrplan. Die Richtzielbereiche 1 ("Kenntnis der lateinischen Sprache") und 2 ("Fähigkeit zur Sprach- und Textreflexion") werden problemlos abgedeckt, wobei LZ 2.8 ("Kenntnis von Hexameter und Pentameter") ohnehin ein Ausgreifen über die Metamorphosen hinaus erfordert. Von den speziellen Lernzielen der Ovid-Lektüre sind zu erfüllen 3.2.1 ("Einblick in das Werk eines römischen Epikers durch Lektüre charakteristischer Ausschnitte im Original"), 3.2.2. ("Einblick in die lateinische Dichtersprache. Kenntnis der Besonderheiten des epischen Stils. Kenntnis von Hexameter und Pentameter"), 3.2.3 ("Einblick in den Aufbau größerer literarischer Darstellungseinheiten"), 3.2.5. ("Bewußtsein von der Bedeutung antiker Texte als Stoff für die europäische Kultur"), 3.2.6 ("Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Problemen und Denkvorstellungen, die im Text angesprochen sind"). Nur 3.2.4. ("Einblick in die antike Mythologie") bleibt offen[9], doch ist dieses Defizit durch die Metamorphosen[10] auszugleichen.


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