4. Grundzuege einer Interpretation


An den neun Elegienbüchern aus dem Exil schrieb Ovid je ein Jahr[1], was bei trist. 4 (646 Verse) weniger als eine Elegie im Monat und weniger als zwei Verse am Tag[2] bedeutet. Damit liegt er nahe am Tempo Vergils, der morgens viele Verse zu diktieren pflegte, die er bis zum Abend auf sehr wenige kürzte (more ursae se parere versus dicens et lambendo effingere Vita Suetonii p. 220 Bayer). Die schon daraus ersichtliche Sorgfalt erforderte, vom Qualitätsanspruch antiker Dichtung abgesehen, vor allem Ovids Status als relegatus[3]. Denn wenn er beim Bemühen um die Rückkehr zu unvorsichtig wurde, konnte sich seine Lage[4] (ohne rechtliche Handhabe dagegen) noch verschlimmern.

Ovid postuliert mit der in trist. 4,10 gewählten Strategie zunächst eine Dichotomie zwischen Literatur und Realität[5]. Ein solches Verfahren kennt man in Rom seit Catull. 16[6] (pedicabo ego vos ..., qui me ex versiculis meis putastis ... parum pudicum), bei Ovid[7] (auch trist. 2,354: vita verecunda est, Musa iocosa mea) erhält es aber existentielle Bedeutung. Auf der einen Seite steht das Leben als Liebesdichter: Folgerichtig sind die Amores das einzige Werk, auf das er explizit (59f.: Corinna[8]) eingeht. Im Gegensatz zu trist. 2,549-556 nennt Ovid weder Fasti noch Medea oder Metamorphosen[9] oder gar die Ars amatoria. Solche Amores-Dichtung soll die Politikferne beweisen und könnte nur gegen die moralische Erneuerung[10] Roms durch Augustus verstoßen. Um auch diesem Vorwurf den Stachel zu nehmen, betont er sein harmloses Privatleben. In die Idylle bricht die Verbannung ein, die er höchstens durch Naivität (error), keinesfalls vorsätzlich (scelus) heraufbeschworen haben kann. So präsentiert sich Ovid dem Leser als ein von Augustus unbegreiflich hart Bestrafter.

Schon das wirft kein gutes Licht auf den Princeps, der die Herrschertugend clementia vermissen läßt. Doch Ovid geht noch weiter und setzt sich durch die Auswahl der biographischen Fakten auf einer zweiten Ebene geradezu mit Augustus gleich, was J. Fairweathers[11] ausführliche, hier nicht zu wiederholende Analyse pointiert zeigt: Sie sind equestri familia orti; das Jahr, in dem im Bürgerkrieg zwei Konsuln fielen, war für Ovid und Augustus wichtig; beide traten im Alter von neunzehn Jahren an die Öffentlichkeit; auch das Amt eines triumvir ist ihnen gemeinsam. Jeder war dreimal verheiratet (und erst das dritte Mal glücklich), beiden schenkte die einzige, mehrfach verheiratete Tochter Enkel. So unterstellt Ovid Augustus implizit, daß er ihn als eine Art Rivalen beseitigt habe. Ausdrücklich sei betont, daß diesen Eindruck nicht Lüge, sondern gezieltes Arrangement der Wahrheit[12] bewirkt, wie Kap. 5.3. zeigen wird.

Wir haben es also nicht mit einem "versifizierten Fragebogen" zu tun, sondern einem nach psychagogischen Prinzipien und in doppelter Intention verfassten literarischen Meisterwerk: Es weckt Mitleid mit dem Verbannten und greift zugleich Augustus an. Ginge der Princeps massiv dagegen vor, würde er die Unterstellungen bestätigen und sich weiter ins Unrecht setzen.

Dieser Befund macht die schulische Bewältigung nicht eben einfach: Verkürzt man die Elegie auf den biographischen Gehalt, bleibt vieles, vor allem das Auswahlprinzip der Lebensdaten, dunkel. Andererseits lernen Schüler hier erstmals antike Dichtung kennen und sind mit einer Interpretation mit wissenschaftlichem Anspruch heillos überfordert. Dennoch ist gemäß dem didaktischen Prinzip der Reduktion die Kunst der Leserlenkung behutsam herauszuarbeiten, um keinen falschen Eindruck von trist. 4,10 und Ovid insgesamt zu hinterlassen. Damit liegt die Richtung grundsätzlich fest, in die sich die Beschäftigung (über die sprachliche Erarbeitung hinaus, vgl. 6.) zu bewegen hat.


zurück zum Inhaltsverzeichnis
weiter zum nächsten Kapitel