2. Der Stand der Forschung
2.1. Die Fachwissenschaft

Zeichnet man die Grundlinien der Einschätzung von Ovids Exildichtung im 20. Jahrhundert nach, zeigt sich über drei Stationen[1] eine logische Entwicklung[2]. Etwa bis zu den Feiern des 2000. Todestages 1957/58 [3]hörte man nur das ständige Lamentieren des Dichters über sein Schicksal und führte dies auf einen "erbärmlichen", "unmännlichen" Charakter zurück, der an innerer Schwäche zerbrochen sei. Doch die politischen Erfahrungen der Zeitgeschichte ließen erkennen, daß Ovid keinen Einzelfall, sondern den Beginn einer traurigen Tradition darstellt: Als Archeget von Autoren, die durch politische Umstände aus der Heimat vertrieben wurden, macht er die Sprachnot des seines Lebenskreises und Publikums beraubten Dichters, die gefährdete Existenz im Exil[4] zum Thema. Zugleich begann man festzustellen, daß Ovid sein Heil nicht in unterwürfiger Schmeichelei gegenüber Augustus sucht, sondern sich mit massiver Kritik[5] zu wehren weiß. All diesen Arbeiten ist gemeinsam, daß sie Ovids Leiden an der Verbannung - gemäß dem neuzeitlichen Konzept unmittelbarer Identität von Erleben und Dichten - als authentische aeußerungen einer gequälten Seele verstehen, einmal als völlig überzogen, dann als verständlich und berechtigt gewertet. Umso eindrucksvoller gelang es neuerdings v.a. in englischsprachigen Untersuchungen, notwendige Korrekturen daran vorzunehmen: Auch die Exilelegien sind primär poetische, also auf bestimmte Wirkung bedachte Texte[6]. Der römische Leser soll durch gezielte Auswahl der Fakten, kaum nachprüfbare Übertreibungen[7], mythologische exempla und eine massive Dosis Selbstmitleid von der völlig unangemessenen Härte der Lebensumstände des so harmlosen einstigen Liebesdichters überzeugt werden. Wohl gemerkt: Nicht daß Ovid unter dem Exil litt, wird bestritten, sondern daß sich das in seiner Dichtung ungefiltert widerspiegelt; Ovid ist weniger Gequälter als Darsteller seiner Qual[8]. Damit nähert sich der heutige Wissensstand offenbar wieder antiker Auffassung[9]. überzogen sind allerdings Theorien, wonach Ovid überhaupt nicht verbannt gewesen sei, sondern die gesamte Exildichtung ein groß angelegtes Gedankenexperiment[10] darstelle.
Trotz ihrer Bekanntheit lag die Elegie trist. 4,10 lange im Windschatten auch der spärlichen Bemühungen um die Exildichtung und diente nur als "Steinbruch" für biographische Informationen[11]. Sie galt als "erste ausführliche Selbstbiographie in Versen[12]". Erst B.R. Fredericks[13] und vor allem J. Fairweather[14] konnten zeigen, daß nicht primär eine in Distichen gegossene, nüchterne, aber umfassende Autobiographie vorliegt, sondern daß die von Ovid sonst angewandten aesthetischen Prinzipien auch hier gültig sind. Im ersten Teil der Elegie (1-64) geht es um Ovids Entscheidung für die Dichtung und seinen Ruhm als Amores-Dichter, der zweite Teil (65-130) - mit dem ersten durch zahlreiche Querverbindungen verknüpft - ist hauptsächlich mit der Verbannung befaßt. Das durch die Gewichtung des biographischen Materials erzielte Arrangement von Aufstieg und Fall entspricht den Prinzipien der Tragödie in Aristoteles' Poetik. Außerdem gestaltet Ovid sein Exil in geläufiger Funeraltopik (besonders deutlich in den ersten vier Versen) als eine Form des Todes und stellt sein individuelles Schicksal durch Anlehnung an andere antike Dichterbiographien sowie die Autobiographie des Augustus in einen literarischen und politischen Kontext. Damit sollte nunmehr klar sein, daß voraussetzungslose, naive Lektüre[15] der Elegie allenfalls die Oberfläche von Ovids dichterischer Leistung, keinesfalls aber deren Kern erreichen kann.


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