5.3.8. Überleben in der Dichtung (115-132)

Damit der Zeitrahmen nicht gesprengt wird, muß man diesen letzten Abschnitt recht schnell abhandeln. Die Not wird zur Tugend, wenn man bedenkt, daß durch entsprechende Präsentation (lateinischer Vortrag - Übersetzungslektüre - abermaliger lateinischer Vortrag) die Schülern einen konzentrierten Eindruck davon erhalten, wie Ovid sich geradezu zu einem Gebet aufschwingt.
Mit Vers 115 findet Ovid den übergang zum Schlußhymnus[1]: Er preist die Muse dafür, daß er ihr nicht nur das nackte Überleben (vivo) verdankt, sondern auch, daß er nicht unter dem Leid zerbricht (laboribus obsto) und durch sie sogar zu einer positiven Einstellung dem Leben gegenüber gelangt (nec me sollicitae taedia lucis habent). Dieser Klimax entspricht die Anordnung nach dem "Gesetz der wachsenden Glieder" mit zuerst einem, dann zwei und zuletzt sechs Wörtern, denen ein ganzer Vers eingeräumt wird. Nun holt die fünffache tu-Anrede[2] einen Musenanruf nach, der im Epos am Anfang stehen würde[3], und wertet auf diese Weise die Elegie in der Hierarchie der literarischen Gattungen auf.
Drei Aspekte hebt Ovid hervor: Die Muse kommt als Linderung für die Leiden des Verbannten (solacia, requies, medicina[4]). Sie führt ihn sogar von seinem bedrohten Aufenthaltsort zurück in die Welt der Dichter, der er einst in Rom angehörte und wo er unbeschwert leben kann: Das zeigt sich im Rückverweis auf den Helikon[5], den Ovid schon einmal (auf Drängen des Vaters) verlassen hat (23) und wohin er schon einmal zurückkehrte. Selbst der Princeps kann das nicht verhindern: Eine höhere Instanz begnadigt den Dichter. Schließlich stattet Ovid Dank für eine seltene Gabe ab (quod rarum est): für Ruhm zu Lebzeiten, der dem Livor[6] keine Angriffsmöglichkeit gibt (dessen Biß in der Assonanz DE nostris DEnte nachgebildet ist[7]) und damit zu dauerhaftem überleben im Medium der Dichtung führt. Zu beachten ist ferner ullum de nostris ... opus, denn damit bezieht Ovid auch die von Augustus inkriminierte Ars amatoria als von der Muse gebilligt in sein literarisches Lebenswerk ein.
Die Gewißheit gründet sich nicht auf ein subjektives Gefühl, sondern nachprüfbare Fakten. Mit zwei Distichen, durch Alliteration herausgehoben (non Fuit ingenio Fama Maligna Meo,/ cumque ego praeponam Multos Mihi, non Minor illis), betont Ovid die Gleichrangigkeit mit den anderen Augusteern. Er selbst wäre bescheiden geblieben, aber eine höhere Macht (die fama) hat sich eingeschaltet. So ist er bei Experten - die Litotes non minor[8] unterstreicht das - und beim Publikum angesehen[9], obwohl auch seine Werke aus den öffentlichen Bibliotheken verbannt waren (trist. 3,1,63-82[10]). Nach Rückschau (125f.: Perfekt) und Diagnose der Gegenwart (127f.: Praesens) blickt das vorletzte Distichon in die Zukunft: Der Ruhm wird dauern. Der Einschub si quid habent igitur vatum praesagia veri, wo nochmals der Doppelsinn von vates aufscheint, ist nicht Einschränkung, sondern Bekräftigung, wie das Selbstzitat aus der Metamorphosen-Sphragis zeigt (15,878f.: das dritte Motto im Arbeitsheft).
So stellt sich Ovid mit seiner literarischer Topik entnommener Ausdrucksweise in die Reihe der römischen Dichter seit Ennius[11] und Horaz[12] und betont auch indirekt seinen Anspruch, Hervorragendes geleistet zu haben.
Mit dem letzten Distichon kehrt Ovid zum Ausgangspunkt zurück, der Hinwendung an den Leser, den er nun gleichfalls in die für das Überleben Verantwortlichen einbezieht. Das gehört wie der Beginn zur Funeraltopik, so daß Ovids "Nachlaß zu Lebzeiten" wahrhaft zu einem monumentum, einem Grab- und Denkmal wird. Mit einer captatio benevolentiae dem lector candidus gegenüber[13] endet Ovid: Die entscheidende Instanz, vor der er zu bestehen hat, ist sein Publikum, nicht - so wird man ergänzen dürfen - Augustus[14].
Damit manifestiert sich Ovids feste Gewißheit, trotz Verbannung ewigen Ruhm gewonnen zu haben. Für die Schüler läßt sich das nachvollziehen, wenn man nun - zur Abrundung und als deutlichen Kontrast in der literarischen Qualität - anhand von Ambrosius Metzgers Meisterlied von 1602 noch einmal Ovids Leben Revue passieren läßt: Er ist über die Jahrhunderte hinweg im Gedächtnis nicht nur der Gebildeten geblieben. Das ergibt sich auch aus *Bruegels kurz vorher entstandener "Landschaft mit Ikarussturz". Wie oben gezeigt, kann man daran Ovids Selbstverständnis rekapitulieren und dann organisch zu den Metamorphosen übergehen.


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