5.3.7. Verbannung nach Tomis (91-114)

Diese Lebenswende Ovids bedarf wieder größerer Aufmerksamkeit. Schon dreimal ist die Verbannung angesprochen, bevor sie in der biographischen Chronologie folgt. Der Leser ist also gut vorbereitet: Er kennt im Prinzip die Situation, in der die Tristia verfaßt sind, und sollte er es vergessen haben, hat ihn die Lektüre daran erinnert. Die 24 Verse sind in einer Stunde nicht zu bewältigen, so daß sie in 91-100 (Verbannung) und 101-114 (Schicksal auf dem Weg nach und in Tomis) aufgeteilt werden.
Die ersten Verse dieses Teils nehmen abgewandelt den Anfang der Elegie auf: die Wendung zum Leser (ut noris, quem legis, accipe posteritas > vos studiosa pectora, quae vitae quaeritis acta[1] meae) und die Angabe des Lebensalter (Geburt > graue Haare; post meos ortus) mittels einer geläufigen Jahreszählung (Konsulatsjahre > Olympiaden). Der inhaltliche Bruch erfordert offenbar einen erzählerischen Neubeginn.
Das Zentrum bildet ein sechs Verse langer Satz, an dessen Beginn sich der düstere Inhalt andeutet: Die meliores anni sind vorüber - nicht nur die Jugend, sondern auch die Zeit des Glücks -, das Haar ist bereits grau. Mit -que (95) nimmt die Schilderung einen neün Anlauf und präzisiert das vorherige Distichon: Zehn Olympiaden[2] liegt die Geburt zurück. Ovid ersetzt die römische Jahreszählung nach Konsuln durch die griechische nach Olympiaden aus zwei Gründen: Erstens geht es um die relative Chronologie seit der Geburt, die so leichter auszudrücken ist, zweitens - das ist die Hauptsache - richtet sich der Blick des Lesers nun schon nach Osten, wie auch Ovids Weg nach Tomis über Griechenland führte[3]: Wieder verbindet sich hier inhaltliche Information mit psychagogischer Intention[4]. Obendrein steht der glückliche Sieger der olympischen Reiterwettkämpfe in deutlichem Kontrast zu Ovids trauriger Lage, wie der Leser im Nachhinein registriert.
Vers 97 setzt mit einem auf iam folgenden cum ein, ähnlich wie beim Umschwung der Stimmung in 31f. (iam ... cum perit), löst aber die Spannung noch nicht: Ovid nennt eine Region noch weiter im Osten als Griechenland, die Stadt Tomis an der Westküste[5] des Schwarzen Meeres[6]. Doch über die topographische Beschreibung hinaus verbirgt sich hinter ad laeva die dem Auguralwesen entstammende Bedeutung "ungünstig"[7] und setzt so die düsteren Andeutungen fort. Daß es nicht Pontus (wie bei den Epistulae ex Ponto), sondern mare Euxinum genannt wird[8], beruht nicht nur auf antikem Aberglauben[9], sondern soll den ganzen Ernst der Situation aufsparen: Tomis liegt am "Gastfreundlichen Meer" - kann daraus für Ovid ein Schaden entstehen? Auch der letzte Vers des Satzes führt das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen weiter:

- v v - - - / - v v - v v -
quaerere me laesi principis ira iubet.

Zuerst nennt Ovid seine Tätigkeit mit dem noch wenig verratenden quärere, dann braut sich mit laesi das Gewitter bedrohlich zusammen. Der Spondeus verlangsamt den Schritt, die Penthemimeres gestattet ein letztes Atemholen. Nun bricht das Schicksal über den Dichter herein mit drei Wörtern, die wie wuchtige Paukenschläge wirken: Ovid hat den princeps selbst beleidigt und damit seine ira[10] heraufbeschworen, die unumstößliche, nicht diskutierbare Entscheidung (iubet) des Machthabers in Rom.
Nach diesem so kunstvoll wie zweckentsprechend gebauten Satz beginnt Ovid das nächste Distichon für den Leser verheissungsvoll: causa meae cunctis ..., doch auch hier bringt die Penthemimeres den Umschwung, und Ovid gibt sich - zum Leidwesen der Forscher[11], zur Freude der Romanautoren - von geradezu lakonischer Kürze: Der Grund für die Verbannung sei viel[12] zu bekannt, doch dürfe er sich darüber nicht auslassen.
Dies muß trotz der schwierigen Quellenlage erläutert werden, wozu der Abschnitt 3.2.2. im Arbeitsheft dient. Zwei Gründe gibt es für Ovids Verbannung: carmen et error (trist. 2,207). Das carmen ist die Ars amatoria, die aber nur den äusseren Anlaß bildet (Pont. 2,9,75f.), denn zum Zeitpunkt der Verbannung war sie schon mehrere Jahre veröffentlicht. In Wahrheit wurde Ovid unmittelbarer Zeuge eines Geschehens (trist. 2,103f.), das zwar schlimm genug war, aber keinesfalls so schlimm wie ein Attentat auf Augustus (trist. 3,5,45f.). Daran haben sich zahlreiche Spekulationen geknüpft, beginnend damit, Ovid habe unbeabsichtigt einen Sittenskandal im Kaiserhaus oder gar Livia nackt im Bade gesehen, bis zur Vermutung, Ovid habe Ehebruch mit Julia, der Enkelin des Augustus, begangen. Die plausibelste Hypothese geht von der ungeklärten Nachfolge für Augustus aus, um die Söhne der Julia, der Tochter des Augustus, und Tiberius, der Sohn Livias, rivalisierten: Ovid scheint dabei auf der Seite des Gaius Caesar gestanden zu haben (vgl. ars 1,177-216). Als diesen 4 n. Chr. eine mors propera dahingerafft hatte - die zeitgenössischen Gerüchte schlossen novercae Liviae dolus nicht aus (Tac. ann. 1,3) -, rechneten Livia und Tiberius mit dessen Anhängern ab: In der Folge wurden 8 n. Chr. sowohl die Augustusenkelin Julia als auch Ovid verbannt. Nur eine so eminent politische Affäre kann erklären, warum Ovid sein Schweigen beibehalten mußte, auch als Augustus tot und Tiberius an der Macht war[13].
Das Tafelbild verdeutlicht Ovids ausgefeilten Gedankengang, der der prekären Situation adäquat ist, indem er die Spannung bis zum Ende durchhält.
Charakteristische Selbstzeugnisse Ovids über den Verbannungsgrund sowie ein Abriss der heutigen Einschätzung finden sich im Arbeitsheft unter 3.2.2. Will man das ausführlich behandeln, dient dazu Tafelbild 9 der Anlage.
Nun schildert Ovid, wie es ihm erging, nachdem er den Verbannungsbeschluß erhalten hatte. Noch in Rom und dann auf der Reise kam es zu übergriffen von Gefährten und Bediensteten, gegen die er offenbar wehrlos war, weil - so suggeriert er - in Rom niemand mehr die schützende Hand über den bereits Verstoßenen hielt. Durch das drastische nefas mit seiner religiösen Dimension weist er auf die gravierenden Vergehen hin, die mit menschlichen Begriffen nicht mehr faßbar sind, besonders aber ruft er noch einmal den quasi-göttlichen Rang des vates (rebar adesse deos 42) in Erinnerung, wogegen ruchlose Menschen sich vergingen. Die Fahrt nach Tomis selbst hätte ihn beinahe auch physisch vernichtet, doch sein Geist rafft sich auf und entdeckt neue Tugenden. Als durch die ira einer höheren Macht longis erroribus actus steht er auf einer Stufe mit *Odysseus [14], der nach stoischer Interpretation durch virtus den Widrigkeiten zu Wasser und zu Lande trotzte, und dann auch mit Vergils Aeneas. Doch anders als für diese Helden gibt es für Ovid (noch) keine glückliche Heimkehr und auch keine siegreich abgeschloßene Landnahme. In seiner jetzigen Umwelt[15] regiert nicht Amor pharetratus, der die Amores inspiriert hatte (am. 1,1,20), sondern rings um ihn treiben pharetrati Getae aus dem Volk der Sarmaten ihr Unwesen[16].
Die Geten[17] und deren Nachbarn, die Skythen, waren in Rom als wilde Barbarenstämme des Ostens geläufig und gehörten zu den römischen Feinden schlechthin. Die Augustuspanegyrik stellte sie als vom Princeps demnächst besiegt hin, aber in der von Ovid erfahrenen Realität hat sich die Propaganda noch immer nicht bewahrheitet[18]. Gegen die Bedrohung helfen also weder passive Hingabe an das fatum noch militärischer Schutz, obwohl Augustus die cura tutelaque rei publicae übernommen hatte, um das zu gewährleisten[1], sondern als einziges Mittel das carmen. Doch solcher Trost in tristia fata[20] kann nur ein carmen triste bzw. ein carmen aus der Sammlung der Tristia werden[21], womit sich im Kontrast mit den teneri amores des ersten Verses die Lage Ovids in ihrer ganzen Härte zeigt[22]. Andererseits widerlegt dies implizit das Urteil des Vaters über das studium inutile.
Im Tafelbild wird Ovids Reaktion auf die auferlegte Verbannung deutlich.


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