5.3.1. Einleitung und Herkunft[1]

Dieser Teil erfordert besonderes Augenmerk und entsprechend ausführliche Behandlung, läßt sich an ihm doch in nuce Ovids ganze Gestaltungskunst demonstrieren. Das erste Distichon enthält für das Verständnis der gesamten Elegie entscheidende Informationen: Ovid ist bekannt als tenerorum lusor amorum und möchte jetzt die Nachwelt über seinen wahren Charakter (qui fuerim) aufklären. Dabei kann amorum für den Plural vom amor ("Liebschaften") stehen, bezeichnet aber vor allem die Gattung der römischen subjektiven Liebeselegie, der Amores[2]. Das belegt nicht nur das Selbstzitat aus am. 3,15,1 (quaere novum vatem, tenerorum mater amorum), sondern auch die literarkritischen Termini ludere für nicht-hohe[3] und tener für liebeselegische[4] Dichtung: Ovid stellt sich dar als einer, der sich "stets (-or[5]) spielerisch mit der zarte Gegenstände behandelnden Amores-Dichtung befaßt" hat. Ovid reklamiert für sich unverändert den Status des Amores-Dichters, als hätte er nicht Abschied von dieser Gattung genommen, um eine area maior (am. 3,15,8) zu erkunden.
Daß es im Unterschied zu diesem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild um ihn als Person geht, verdeutlicht die Spitzenstellung von ille ego[6], was den Satz für den ungeübten Leser schwer durchschaubar macht. Die - in doppeltem Sinn - "prosaische" Wortfolge[7] würde lauten[8]: Qui ille ego tenerorum lusor amorum fuerim, accipe posteritas, ut noveris, quem (= cuius carmen[9]) legis[10]. Die angesprochene Nachwelt[11] beschließt den Satz, der von der Grundspannung zwischen Autor und Leser[12] geprägt ist. Deren Inhalt - der Kontrast von "Dichtung und Wahrheit", von Vorwissen des Lesers und dem, er von Ovid wissen soll - füllt den Zwischenraum. Schon hier zeigt sich Ovids Kunst, unaufdringlich, aber wohlkalkuliert[13] seine Aussage darzubieten. Vor allem nützt er die Möglichkeiten des elegischen Distichons, das zwischen Hexameter und Pentameter Spannung[14] aufbaut und am Ende wieder löst.
Die folgenden Verse schildern Ovids Geburtsort Sulmo (3f.): Er hebt den Reichtum an kühlem Wasser[15] hervor, was Linderung im italischen Sommer[16] verspricht. Das Distichon ist für die Ovidrezeption überaus folgenreich (Abb. 1): Sulmona (in den Abruzzen gelegen) führt bis heute S.M.P.E. im Wappen. Der Vers ist dort auch bei des Lateinischen nicht Mächtigen verbreitet[17], zumindest noch im letzten Jahrhundert gab es sogar ein Lied, in dem er weiterlebt. Zwar konnte die Bevölkerung im Lauf der Jahrhunderte mit der Person des Dichters nichts mehr anfangen und machte ihn (ähnlich *Vergil) zu einem sagenhaften Zauberer[19] ("lo Vid(d)io" < l'Ovidio), doch der Name blieb lebendig[18]:

Sulmona bella, ove Vidio nacque
Cinta da monti e copiosa d'aque.

Der aktuelle Fremdenverkehrsprospekt[20] zeigt, daß Ovid in Sulmona durch Standbilder[21], Straßen-, Schul- und Restaurantnamen gegenwärtig ist. 1967 fand dort gar ein regelrechtes Wiederaufnahmeverfahren[22] statt, um ihn symbolisch zu rehabilitieren. So drängen sich die Verse für einen Ausflug ins Nachleben[23] geradezu auf.
Nun umschreibt Ovid sein Geburtsjahr durch die damaligen Konsuln, doch statt Namen erwähnt er das zeitgeschichtlich einmalige Ereignis, daß zwei Konsuln im selben Krieg fielen. Daß er sich trotzdem anscheinend im üblichen Sprachgebrauch bewegt, ist aus einem Fragment der etwa zeitgleichen Fasti Praenestini[24] (Abb. 2) zu ersehen. Die Namen Hirtius und Pansa waren in Rom nach mehr als fünfzig Jahren noch geläufig, da der Senat ihnen Ehrengräber[25] auf dem Campus Martius (beim Palazzo della Cancelleria am Corso Vittorio Emmanuele) errichtet hatte, wohin die "Sonntagnachmittagsausflüge" führten.
Den Rang als eques[26] verdankt Ovid der weit zurückreichenden Reihe der Vorfahren[27], nicht den Bürgerkriegswirren und der Gabe des Schicksals[28]. Fortuna[29] spielte in Rom eine wichtige Rolle (Abb. 3) - aktuell durch den Altar der Fortuna Redux[30] für Augustus -, so daß die Autonomie gegenüber göttlichen und politischen Mächten deutlich wird: Ovid muß sich seinen Stand nicht durch Augustus bestätigen lassen[31], er besitzt ihn qua eigenem Recht[32].
In den folgenden sechs Versen geht Ovid überaus behutsam vor: Zunächst berichtet er pointiert, daß sein Bruder zwölf Monate vor ihm geboren ist: Für tribus quater (10) gibt es keine exakte Parallele[33] in der lateinischen Literatur. Die Angabe wird in 11f. durch das scheinbare Paradoxon, daß für beide Geburtstage derselbe Morgenstern zugegen war und ein Tag mit zwei Geburtstagskuchen[34] gefeiert wurde: Es war exakt der gleiche Tag. Erst in 13f. folgt das Datum: der zweite Tag der quinquatrus mit Gladiatorenspielen (Abb. 4), der 20. März. Die fünf Tage des Minervafestes[35] zählten zu den wenigen Ferien[36] der römischen Schüler, die Lehrer erhielten zu diesem Zeitpunkt den kargen Lohn (um den sie oft genug betrogen wurden), wie Ovid in den Fasti bei der Aufzählung der mit Minerva eng verbundenen Berufe berichtet (fast. 3,829):

nec vos, turba fere censu fraudata, magistri
spernite: discipulos attrahit illa novos!

Den gesamten ersten Teil prägen kunstvoll arrangierte Zahlenangaben, die fast objektiv meßbare Informationen verheißen: milia novies decem (2) ist durch die Anordnung der Kardinal- und Multiplikativzahlen[37] chiastisch zu tribus quater (10) gestaltet; uterque pari (6), amborum idem (11) und una duo (12) variieren den Zusammenfall zweier eigentlich getrennter Ereignisse; im Gegensatz dazu greift quinque - prima (13f.) aus einem größeren Zeitraum einen speziellen Tag heraus, der (wie schon bei prima in 9) durch den modifizierenden Zusatz eben nicht der erste, sondern der zweite ist. Ovid zwingt den Leser zu höchster Aufmerksamkeit, um sich im Irrgarten scheinobjektiver Zahlenreihen zurechtzufinden, statt einfach handfeste Informationen zu liefern (vgl. 75f.). So lenkt er das Augenmerk darauf, wie bedacht die Elegie komponiert ist, und bereitet den nächsten Interpretationsschritt vor.
Weiter fällt auf, daß Ovid (bes. in 3-14) zwar seine Heimat hervorhebt, sein Geburtsdatum aber nicht mit Kategorien Sulmos, sondern Roms beschreibt: dem Tod der römischen Konsuln, der Sulmo nur indirekt betraf, und dem römischen Minervafest, das in Sulmo nicht gefeiert wurde. Das erklärt sich durch die Exilsituation, aus der Ovid sich an das Lesepublikum in Rom und die Nachwelt[38] wendet und der er allgemein geläufige Fixpunkte bietet.
Das Tafelbild  (Graphik) hält neben den Fakten das Strukturprinzip der Dichotomie von "Dichtung und Wahrheit" sowie der Adressatenbezogenheit der Angaben fest.
Trotz schon ausführlicher Analyse des ersten Teils sollte man nun auf die politische Dimension[39] als einen essentiellen Aspekt von Ovids Schaffen eingehen. Denn noch ist der Sprachgebrauch nicht genügend geklärt, und es droht das Gefühl zu bleiben, daß Ovid nach Dichterart[40] bisweilen grundlos zu merkwürdigen Wendungen greift. Doch es muß die hermeneutische Maxime des Augustinus gelten, scheinbare Anstöße[41] zum Anlaß für genaue Prüfung zu nehmen.
Ovid bezeichnet sein Geburtsjahr fast wie in Prosa durch die eponymen Konsuln. Das wäre nichts besonderes, würde er nur die Namen nennen (Hor. carm. 3,14,29 consule Planco). Aber nach dem durch die Litotes nec non akzentuierten ut tempora ("Zeitumstände") noris zitiert er im mit vierfacher Alliteration weiter betonten Pentameter Cum CeCidit fato Consul uterque pari eine Wendung aus der Autobiographie des Augustus, die in die *Res gestae einging: populus ... me consulem, cum consul uterque in bello cecidisset, et triumvirum[42] rei publicae constituendae creavit. (Mon. Anc. 1[43]). Damit wird das Geburtsjahr politisch relevant: 43 v. Chr.[44] war für Ovid und Augustus bedeutsam.
Analog bildet beim Geburtstag die scheinbar tautologische, durch die chiastischen Hyperbata betonte Angabe[45] Lucifer - idem / una - dies (10f.) den Ausgangspunkt der Erwägungen. Sie lenkt das Augenmerk auf Lucifer, den Stern der Venus[46]. Drei Götter wachen[47]über Ovids Geburt: *Mars als Monatsgott (vgl. fast. 3,1-166), Minerva, der zu Ehren diequinquatrus [48] gefeiert werden, und *Venus als Göttin, die die morgendliche Geburtsstunde[49] schützt. Diese sind auch für Augustus wichtig: Mars ist als Vater des Romulus Ahnherr, Venus die Stammutter der gens Iulia, was seit Caesar und Vergils Aeneis bekannt war. Augustus weihte ihr als Genetrix einen Tempel, auf dem Brustpanzer der Primaporta-Statue[50] ist sie durch den Morgenstern repräsentiert. Auf dem Kultbild im Mars Ultor-Tempels[51] des Augustusforums waren Venus und Mars zu sehen. Minerva schließlich ist durch das Palladium, das von Aeneas aus Troia gerettete Kultbild (eines der pignora imperii Roms[52]), mit Augustus[53] verbunden. Gehören Mars und Venus als Planetengötter[54] sowie durch Mythos und Kultpraxis zusammen, so verknüpft Ovid Venus und Minerva sprachlich, indem er Venus durch den Luci-fer, Minerva durch das von ihm zuerst gebrauchte armi-fer[55] charakterisiert. Demnach beansprucht Ovid den Schutz dreier Götter, die im augusteischen Denken eine erhebliche Rolle[56] spielen.
Noch dazu ist Ovids Geburtstag zum offiziellen Geburtstag des Augustus, dem 23. September, im Jahreskreis spiegelsymmetrisch: Er ist unmittelbar vor, Augustus unmittelbar nach dem Äquinoktium geboren. Auf die Analogie von Kosmos und Bios legte Augustus großen Wert, wie die Verwendung des *Capricornus [57], seines Nativitätszeichens, in der Herrschaftsikonographie zeigt. Die graphische Darstellung im Tafelbild verdeutlicht diese Rivalität noch.
Der Exkurs hat gezeigt: 1. Ovids Dichtung besitzt eine politische Dimension, deren Wahrnehmung genaü Lektüre und das Hintergrundwissen voraussetzt, das die kundigen Leser in Rom[58] (Ovids Adressaten im engeren Sinn) besaßen. 2. Einleitende Passagen (nicht nur Prooemien) bestimmen den Horizont, vor dem das ganze Werk gelesen wird: Ovid stellt klar, daß er als Dichter sich mit dem politischen Herrscher gleichrangig fühlt, und muß das nur noch an gezielt ausgewählten Stellen vertiefen[59]. Damit wird das für die schulische Behandlung aus zeitlichen und didaktischen Gründen gewählte exemplarische Verfahren als ein Spezifikum antiker Literatur legitimiert.


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